nd-aktuell.de / 31.05.2014 / Kultur / Seite 32

Dicke-Backen-Musik? Ganz falsch

Mit dem Dreistädte-Orchester Groß Laasch auf dem Weg ins Leben

Astrid Kloock (Text) und Wolf Spillner (Bild)

Ein Mann klopft an die Tür und bittet mich, über »seine Jungs« zu schreiben. »Seine Jungs« meint Jugendliche, neun Mädchen und Jungen zwischen 15 und 27; sie machen Blasmusik.

Blasmusik ist nicht mein Thema, ist nicht die Musik, die mich kitzelt. Spontan denke ich an Alte Herren, Posaune und Bierglas. Dicke-Backen-Musik.

»Falsch, ganz falsch«, sagt der Mann. »Geblasen wird aus dem Bauch, übers Zwerchfell. Wer die Luft aus den Backen holt, wird schnell müde und kann keine sauberen Töne machen.«

Der Mann heißt Ricardo, ist ausgebildeter Instrumentalpädagoge, ins Musikmachen verliebt, mit Trompete, Tenorhorn, Posaune und Klavier vertraut und Musiklehrer seit seinem 15. Lebensjahr. Seit 2005 leitet er mit seinem Geschäftspartner Marko Weinaug die Kreativ-Musikschule Groß Laasch. »Unsere Blasmusik …« Ricardo hält eine feurige Rede. Er sagt es nicht direkt, aber aus seinen Worten kann ich hören: »Das Beste am Norden ist unsere Blasmusik«. Er ist verbal überzeugend, aber mein Vorurteil ist so groß wie ich alt bin. Ricardo lädt mich ein:»Wir proben jeden Samstag, von zehn bis zwölf, Groß Laasch, Schulweg 3. Parken hinter der Schule. Der Hof ist groß.«

Wochenendruhe im Dorf. Der Hahn hat schon viele Male gekräht. Sonst ist es still; der Schulhof noch leer. Der rote Backsteinbau war einst die Grundschule von Groß Laasch. Unverkennbar. So sahen in Mecklenburg die Dorfschulen aus: schmuckloser Ziegel, klar gegliedert, Mitteltür, großrahmige Fenster zu beiden Seiten der Tür. Nach der Wende waren hier das Gemeindebüro und die Heimatstube untergebracht. Unterm Dach wurden ein paar Räume frei. Ricardo entdeckte sie und setzte flugs seinen Fuß in die Tür. Die oberen Räume wurden umgebaut. Als die ersten Musikschüler in die Hörner bliesen, hatten die Räume noch keine Fenster. 2012 zog die Gemeinde auch aus dem Erdgeschoss aus. Das alte Schulhaus wurde komplett saniert. Die Kreativ-Musikschule hat es gemietet. Seit Ende 2013 ist sie hier zu Hause. Zehn Klassenräume, ein Konzertsaal. Die Schüler lernen Gitarre, Flöte, Klavier, Klarinette, Saxophon, Posaune, Trompete, Schlagzeug oder Akkordeon.

Die Proben finden im Konzertsaal statt. Eine Trompete, vier Hörner, Tuba und Schlagzeug. Das wird laut, denke ich. Vor dem Hören kommt das Sehen. Ich bin fasziniert. Eine Tuba im Arm, neun Kilo blitzfeines Messing, mit diesem Metallkörper selbstgemachte Töne in die Welt blasen - das ist schon was! Kleiner und graziös verschlungen das Sousophon, eine blecherne Schlingpflanze, die Töne fahren Achterbahn, ehe sie an die frische Luft kommen. Dagegen ist die Trompete ein schlichtes Instrument, äußerlich betrachtet. Ihre Töne haben schon Tausenden weiche Knie gemacht. Unvergessen uncle Satchmo: Oh yeah - what a wunderful world.

Das Einstimmen geht erstaunlich leise vor sich. Trompete, Hörner, Tuba, Schlagzeug. Marcel pustet in die Nasenflöte. Ein Spielzeug. Man kann Vogelstimmen mit ihr imitieren. Marcel, mach uns den Kuckuck. Alle lachen. Die Probe beginnt fröhlich.

Niklas, Julius, Andrea, Tobias, Tina, Konstantin, Jan-Henryck, Katharina, Marvin - sie sind das Dreistädte-Orchester der Kreativ-Musikschule Groß Laasch. Sie sind jung, Teenies und Twenties, sind Schüler oder auch berufstätig. Sie kommen aus Dömitz, Neuhaus, Wittenburg, Grabow, Pröttlin, Steesow einmal in der Woche zum Unterricht und am Wochenende zur Probe in das kleine Dorf. Sie sind die besten aller Schüler der Kreativ-Musikschule, »ausgelesen« von ihren Lehrern. Am Anfang steht das Elterngespräch. Mitglied sein heißt viel üben, jedes Wochenende proben, für Auftritte bereit sein. Schwänzen gibt es nicht, und es gibt auch kein Frei, wenn Opa Geburtstag hat. Wenn die Eltern einverstanden und die Schüler bereit sind, kann’s losgehen.

Marcel ist der musikalische Leiter des neunköpfigen Blasorchesters. Er schlägt den dicken, schwarzen Ordner auf. Noten von 500 Musikstücken. Das Repertoire des Orchesters. Polka, Walzer, Schlager. Morgen ist Auftritt bei der Kleiderbörse in Groß Laasch.

»Was üben wir heute? Wir fangen mit Schlager an. So ein Tag, so wunderschön wie heute …«

Die Neun kennen sich lange, sind auch jenseits von Trompete und Tuba befreundet. Sie möchten fortan samstags drei Stunden üben statt zwei. Hundertzwanzig Minuten sind schnell weggeblasen. Marcel und Ricardo, die Lehrer, geben ihr okay.

Auftritt Kleiderbörse: Sooo ein Tag, so wunderschööön wie heute - das Vorspiel getragen, sinfonisch, dann Jubel aus allen Hörnern … selbst Blasmusikmuffel wie ich merken die Schwingungen. Blasmusik gehört unter die Menschen, auf die Straße, ist ein Gemeinschaftserlebnis.

Neun Bläser blasen sich ihre Freude aus dem Leib, jeder auf seinem Instrument, zusammen wird es ein Lied. So ein Tag …

Neun Bläser - ein Orchester. Einzeln sind sie unterschiedlich wie die Buchstaben im Alphabet. A ist begabt und ehrgeizig. Er kann alles, was er können will. Das Abi hat er mit Bravour gemacht. Er will studieren, oder auch nicht. Im Freiwilligen Jahr arbeitet er mit Kindern. Vielleicht bleibt er dabei. B arbeitet auch mit Kindern. Er hat nach der 10. Klasse Erzieher gelernt, hat das Pädagogische im Blut, ist umsichtig, zuverlässig, wenn er als Letzter aus der Tür geht, kann man sicher sein, dass kein Fenster offen geblieben ist und keine Noten vergessen wurden. C ist die Ausnahme, was das Alter angeht. Sie war zu DDR-Zeiten Schäferin, hat sich den Wunsch, Musik zu machen, erst spät erfüllt. Sie beherrscht ihr Instrument ausgezeichnet. Fünf Tage in der Woche arbeitet sie in Hamburg. Manchmal dauert es, ehe die Freude am Spiel auf ihrem Gesicht zu lesen ist. D ist ein kluger Junge und guter Bläser. Er muss es sich schwerer erarbeiten als andere, war als Kind Legastheniker und braucht fürs Notenlesen Zeit. Schwierig ist es auch für E. Bei ihr hat es anatomische Gründe. Zahnstellung, Lippenform, Mundstellung, Beschaffenheit der Wangenknochen, wie dick ist die Zunge - das sind für Blasmusiker wichtige Voraussetzungen. Die wenigsten haben die ideale »Passform« für ihr Instrument. Sie müssen üben, dem Atem die richtige »Figur« zu geben, damit ein sauberer Ton entsteht. F hat mit dem sauberen Ton keine Schwierigkeiten, aber mit der Lebendigkeit. F ist schön, aber schüchtern. Sie muss lernen, sich vom Blatt zu lösen, ihr Ich ins Spiel zu bringen. Begabt sind sie alle. Persönlichkeiten müssen sie werden. Auch ein Conny Bauer, Luten Petrowsky oder Baby Sommer hat lange geübt!

»Nichts gegen Baby Sommer, Petrowsky oder Conny Bauer, aber bei mir muss keiner Weltmeister werden«, sagt Ricardo.

»Ich halte nichts von Höher-Weiter-Schneller. Für mich ist Musik ein Mittel, junge Menschen auf ihren Weg zu bringen. Wer bin ich? Was kann ich? Das sollen sie in der Gemeinschaft erfahren. Zusammen mit Keyboard, Trompete, Tuba und Schlagzeug üben sich auch moralische Werte leichter ein. Respekt, gegenseitige Rücksichtnahme, Toleranz. Das müssen sie lernen wie den Quintenzirkel oder den Unterschied zwischen Holzbläsern und Blechbläsern. Da geht schon mal ein Ton daneben. Ich weiß, wie das ist in der Pubertät, war auch mal 17. Aber meine Schüler waren noch nicht 37. Ein guter Lehrer muss das bedenken.« Ricardo, der große Kerl, explosiv und feingestrickt, ist ein Macher. Nicht von ungefähr steht auf der Homepage der Kreativ-Schule. »… es ist nicht genug zu wollen, man muss es auch tun ...«

Unterricht, Proben, Auftritte. Auftritte sind Höhepunkte. Nicht selten sind Eltern und Großeltern dabei. Fackelumzug, Landeswettbewerb, Jubiläumsfeiern. Sie sind bekannt.

Dreistädte-Orchester - der Name ist öde, klingt nicht.

»Uns egal«, sagen Marco und Ricardo, »der Name ist Absicht. Schon vor Jahren gab es den Versuch, die Städte Ludwigslust, Grabow und Neustadt-Glewe in einem Städtedreieck zu binden und durch Synergie ihre Bedeutung zu heben. Dieser Gedanke ist immer wieder unter den Hammer gekommen. Die Stadtväter kochen lieber ihre eigene Suppe. Das ärgert mich. Deshalb ist meine Schule weder in Ludwigslust noch in Grabow noch in Neustadt-Glewe, sondern im kleinen Dorf Groß Laasch angesiedelt, und das Ensemble der Besten heißt Dreistädte-Orchester. Basta. Die Stadtväter sollen wenigstens einen Schluckauf kriegen, wenn sie den Namen aussprechen.«

Das Dreistädte-Orchester. Neun ungeduldige junge Menschen, Blasmusik-Verliebte, Marcel ihr »Vorturner«, war Schüler von Ricardo, ist in Dömitz aufgewachsen. Dort hat er im Fanfarenzug die Trommel geschlagen, dann Trompete gelernt, die mittlere Reife gemacht, in Ludwigslust die Fachoberschule besucht, in Wismar Wirtschaftsinformatik studiert, mit dem Master beendet. Er ist in Mecklenburg herumgekommen. Sein Praktikum hat er im »Ausland«, in Fulda, absolviert. Dort wollten sie ihn behalten und haben ihm gute Bedingungen geboten. Materiell wäre das eine Steigerung von Kleinwagen auf Mittelklasse gewesen. Er ist beim Kleinwagen geblieben. Auf die Frage, wo er nicht sein möchte, hat er eine eindeutige Antwort: Außerhalb von Mecklenburg. »Das hat nichts mit der schönen Landschaft zu tun, sondern mit den Menschen, die meine langjährigen Freunde sind. Familie und Musik - das ist für mich Heimat, und wenn ich nicht muss, geb ich sie nicht auf«. Marcel wohnt in Rostock, er arbeitet in Sanitz als IT-Berater. Jeden Freitag und Samstag fährt er mit seinem »Kleinwagen« nach Groß Laasch zur Probe und natürlich zu den Auftritten.

Ricardo und Marcel sind unterschiedlich wie Feuer und Wasser. Ricardo kann Löcher in die Wand reden. Marcel ist sparsam mit Worten, aber nicht mit Witz. Einig sind sich die beiden in ihrem pädagogischen Ansatz. Sie wollen keine Sternchen und Stars, schicken auch niemanden ins Dschungelcamp. Sie wollen einfach nur Kompass sein, dass junge Menschen ihren Weg finden, frei werden, die Noten nicht nur vom Blatt spielen können. Ob Walzer, Polka, Dixi oder Jazz - jeder muss seine Musik selber finden.

Ist Blasmusik cool? Auf diese Frage gibt es viele Antworten. Hier ist eine:

Ein Vater erzählt. Mein Sohn wünscht sich zu Weihnachten eine Trompete. Ich würde ihm lieber Fußballschuhe kaufen. Blasmusik find ich nicht cool. Es ist Weihnachten. Das Blasorchester gibt ein Konzert. Der Sohn spielt mit. Der Vater hört zu. Zum Solo tritt der Junge vor, steht vor einem großen Publikum auf der Bühne. Er setzt die Trompete an und spielt: Il Silenzio. Die Abschiedsmelodie über allen Köpfen. Auch die letzten hohen Töne kommen klar. Il Silenzio. Der Vater braucht ein Taschentuch.

Mein Abgesang für die Blasmusiker von Groß Laasch und ihre Lehrer Ricardo und Marcel ist ein Gruß frei nach Satchmo - I see trees of green, red roses too, I see them bloom, for me and you. And I think for myself, What a wonderful world.

Oh yeah - what a wonderful world.