Behinderte ausgelagert

Zustände in belgischen Heimen teils erschreckend

  • Andrea Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
Frankreich finanziert lieber die Betreuung seiner Behinderten in Belgien, als eigene Strukturen zu schaffen. Das führt auch zu Missbrauch.

Frankreich tut sich im Umgang mit seinen Behinderten schwer. Aufgrund fehlender Strukturen aber vor allem mangels echten politischen Willens, Behinderten in der Gesellschaft einen Platz zu geben, wird das Problem seit Jahrzehnten verstohlen an das Nachbarland Belgien weitergegeben, das vor allem geistig Behinderte, Autisten und Menschen mit Down-Syndrom aus Frankreich aufnimmt. Ihre Zahl wird auf 6500 bis 8000 geschätzt, darunter rund 1000 Kinder. Seit dem Jahr 2000 wurden 140 Einrichtungen speziell für französische Patienten geschaffen. Zum Teil sind dort die Behandlungsmethoden besser und fortschrittlicher, besonders was Autismus betrifft. Doch in einigen, vor allem privaten Einrichtungen lassen die Zustände stark zu wünschen übrig.

Die französische Tageszeitung »Libération« hat sich vor kurzem in einer solchen Einrichtung umgesehen. In »Les Boutons d'or«, einem früheren Kloster, leben heute 40 geistig schwer behinderte Franzosen. Das Haus gehört zu einer Privatgruppe, die 16 Zentren verwaltet. Bei der Reportage läuft es dem Leser kalt den Rücken hinunter: Die Zeitung berichtet - und bebildert mit zahlreichen Fotos - Lebensbedingungen, die jenen in Irrenhäusern vergangener Jahrhunderte in nichts nachstehen. Die Journalisten schreiben von geistig behinderten Menschen, die zum Teil nackt über die Flure irrten. Einige von ihnen trugen Spuren nicht behandelter Verletzungen. Andere schliefen in leeren, kaum geheizten Räumen, in denen blanke Stromkabel aus von Schimmel bedeckten Wänden ragten. Das Personal sei kaum oder gar nicht geschult, und chronisch unterbesetzt. Lebensmittelrationierungen und Übermedikation gehören zum Alltag.

Zwar bestreiten die Geschäftsführer der Einrichtung die beschriebenen Missstände, doch die Folgen der übereilten Ausweitung des belgischen »Pflege-Exils« sind bekannt. Es hat sich zu einem lukrativen und kaum kontrollierten Geschäft entwickelt, das zunehmend in den Händen dubioser Privatunternehmer liegt. In der belgischen Gesetzgebung wird die Unterbringung behinderter Menschen als simpler »Hotelservice« angesehen, der somit dem freien Wettbewerb unterliegt. Fast jeder kann somit ein Behindertenheim eröffnen. Die Sicherheitsbestimmungen sind leicht zu umgehen, und Banken leihen gerne das fehlende Startkapital, denn die Einrichtungen sind dafür bekannt, »astronomische Gewinne« abzuwerfen, so »Libération«.

Frankreich akzeptiert den Teilmissbrauch nicht nur, sondern finanziert ihn mit, da die staatliche Krankenkasse und die Kommunen die Kosten für die Unterbringung ihrer Behinderten in Belgien übernehmen - im Durchschnitt mit 160 Euro pro Tag. Dies ist viel billiger, als eigene Strukturen zu schaffen.

Frankreich hatte bisher keine Möglichkeit, die belgischen Einrichtungen zu kontrollieren. 2011 hatten Frankreich und die Region Wallonien eine Vereinbarung unterzeichnet, die es fortan den Inspektoren der französischen Gesundheitsdienste ermöglicht, auch dort Kontrollen vorzunehmen. Doch da Frankreich kein Budget locker gemacht hat, um die bereits für Frankreich nicht ausreichende Anzahl von Inspektoren aufzustocken, dürfte dies an der Situation kaum etwas ändern. So droht die von »Libération« ausgelöste Welle der Empörung schnell wieder abzuebben und das Thema erneut in Vergessenheit zu geraten - bis zum nächsten Skandal.

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