Fast genau zehn Jahre nach einer Verfolgungsjagd mit schweren Folgen müssen sich zwei französische Polizisten vor Gericht verantworten. Wegen »unterlassener Hilfeleistung« stehen sie in Rennes unter Anklage. Sie hatten in der Pariser Arbeitervorstadt Clichy-sous-Bois zwei farbige Jugendliche gejagt und als letzte lebend gesehen, bevor die beiden in ein Transformatorenhaus flüchteten und dort durch einen Stromschlag von mehreren tausend Volt starben.
Einer der Polizisten berichtete per Sprechfunk dem örtlichen Kommissariat: »Sie sind wahrscheinlich in der EDF-Zentrale. Wenn das zutrifft, dürften sie kaum mit dem Leben davonkommen.« Es vergingen noch fast 30 Minuten, bevor im ganzen Viertel durch den Kurzschluss das Licht erlosch. Dieser bei späteren Nachforschungen in Aufnahmen entdeckte Satz ist nun Dreh- und Angelpunkt des Verfahrens. Er zeugt davon, dass die Polizisten die Gefahr für die Jugendlichen kannten und trotzdem nicht handelten. Sie hätten etwa den Stromkonzern alarmieren und das Abschalten des Umspannwerks veranlassen können.
Den Prozess, der fern der Pariser Region in »befriedeter Umgebung« stattfindet, mussten die Familien der Opfer regelrecht erkämpfen. Die Polizisten konnten ihren Dienst weiter ausüben. Dabei war schon 2007 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, das aber 2011 eingestellt wurde. Dagegen haben die Familien und auch die Staatsanwaltschaft Einspruch eingelegt. Ein Berufungsgericht hat ihnen Recht gegeben und einen Prozess angeordnet, zu dem es jetzt endlich kommt.
Der Tod des aus Tunesien stammenden 17-jährigen Zyad Benna und seines 15-jährigen mauretanischen Freundes Bouna Traoré war seinerzeit der Funke, der eine Explosion der Empörung über die Willkür und den Rassismus der Polizei sowie die Perspektivlosigkeit vor allem für Jugendliche ausländischer Herkunft in Frankreich auslöste. Ausgehend von Clichy-sous-Bois haben Jugendliche in ganz Frankreich in »Problem«-Vororten Autos angezündet und sich mit Polizisten regelrechte Straßenschlachten geliefert. Die Unruhen im Herbst 2005 hielten drei Wochen lang an. Mehr als 2700 Personen wurden vorübergehend festgenommen, rund 600 von ihnen vor Gericht gestellt.
Die Ereignisse lösten eine Debatte über die Lage der Jugendlichen in den Vororten aus, die zumeist ausländischer Herkunft sind, vorzeitig die Schule verlassen und sich ohne Zukunftschancen mit Gelegenheitsjobs oder kriminellen Vergehen über Wasser halten. Besonders angeprangert wurde die Haltung vieler Polizisten, die diese Jugendlichen nur zu oft durch willkürliche Personenkontrollen - oft bis zu einem Dutzend pro Tag - demütigen. »Wem man schon von Weitem ansieht, dass er ein Schwarzer oder ein Araber ist, der wird sechs bis sieben Mal häufiger kontrolliert als ein Weißer«, meint ein Sozialarbeiter aus einem dieser Viertel. »Dabei sind viele dieser Jugendlichen hier geboren, sind Franzosen und haben entsprechende Papiere.« Daran habe sich leider seit 2005 kaum etwas geändert.
François Hollande hatte 2012 im Präsidentschaftswahlkampf versprochen, dass er eine für den ganzen Tag geltende Bescheinigung einführen wird, die die Polizei nach der ersten Personenkontrolle ausfüllen und aushändigen muss und die die betreffende Person bis zum Abend vor weiteren Kontrollen bewahrt. Doch dieses Versprechen hat der Präsident wie so viele andere nicht eingelöst.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/965079.prozess-in-befriedeter-umgebung.html