nd-aktuell.de / 15.12.2001 / Politik
Es war das kleinere Übel
Vor 20 Jahren: Verhängung des Kriegsrechts in Polen
Karl-Heinz Gräfe
Polens ehemaliges Staatsoberhaupt Wojciech Jaruszelski wurde 1991 wegen der Verhängung des Kriegszustandes angeklagt. Fünf Jahre später entschied eine Parlamentsmehrheit, das Verfahren einzustellen, denn die Akteure des Kriegsrechts hätten im Dezember 1981 »im Zustand höherer Notwendigkeit«, u.a. wegen der Gefahr eines sowjetischen Einmarsches, gehandelt. Noch heute fällt die Beurteilung der dramatischen Ereignisse vor 20 Jahren sehr kontrovers aus, die zugänglichen archivalischen Quellen sind lückenhaft und die Erinnerungen von Zeitzeugen mitunter trügerisch. Erwog Moskau unmittelbar nach dem Einmarsch in Afghanistan mit über 80000 Soldaten ernsthaft eine weitere Militärintervention? Haben Jaruzelski und seine Generale das Schreckgespenst sowjetischer Bedrohung nur benutzt, um den Niedergang der kommunistischen Herrschaft in ihrem Land per Militärdiktatur aufzuhalten? War der 13. Dezember 1981 ein Staatsstreich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und eine einseitige Aufhebung jener Gesellschaftsverträge, die Regierung und Solidarnosc-Führer im Spätsommer 1980 ausgehandelt hatten?
Nach landesweiten Streikaktionen waren im Abkommen von Gdansk am 30. August 1981 unabhängige Gewerkschaften, Streikrecht, Pressefreiheit und ein (kaum erfüllbarer) Katalog sozialer Forderungen zugesichert worden. Solidarnosc wiederum versprach, die in der Verfassung verankerten Grundsätze zu akzeptieren: also die führende Rolle der PVAP, das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln und die Bündnisverpflichtungen im Warschauer Vertrag. Die unabhängige Gewerkschaft erhielt enormen Zulauf und zählte bald neun Millionen Mitglieder, darunter 700000 Kommunisten, d.h. ein Viertel der Parteimitglieder. Dieser in Gdanks geschlossene Kompromiss, ein Präzedenzfall im osteuropäischen Staatssozialismus, provozierte eine harsche Konfrontation zwischen den polnischen Reformern um den neuen Parteichef Kania und den Hardlinern in Moskau, Berlin, Prag und Sofia. Im Politbüro des ZK der KPdSU drohte Ende Oktober 1980 Verteidigungsminister Ustinow: »Unsere Nordgruppe der Streitkräfte in Polen ist bereit und befindet sich in voller Gefechtsbereitschaft.« Auf einer Beratung des Warschauer Paktes am 4. Dezember 1980 (ohne polnische Vertreter) sprachen sich Ungarn und Rumänien gegen ein militärisches Vorgehen aus - wohl auch angesichts einer Warnung durch US-Präsident Carter an Moskau. In einer von US-Sicherheitsberater Brzezinski schon für einen Interventionsfall im Dezember 1980 vorbereiteten Erklärung wurden der UdSSR »reale Sanktionen« angekündigt wie Einstellung der Getreidelieferungen oder Landeverbot von Flugzeugen. Breshnew gab jedenfalls Kania am 5. Dezember zu verstehen: »Na gut, wir werden nicht einmarschieren. Sollte sich aber die Lage verschlechtern, werden wir es doch tun.«
Auf einem geheimen Treffen Anfang April 1981 bekräftigten Kania und der neue Regierungschef Jaruszelski gegenüber Ustinow und KGB-Chef Andropow, dass ein Einmarsch sowjetischer Truppen »absolut unmöglich« sei. Sie gaben aber die polnische Zustimmung zum sowjetischen »Projekt über die Einführung des Kriegszustandes«. Als Jaruszelski im Oktober 1981 Kania auch als Parteichef ablöste und die gesamte Machtfülle von Partei, Staat und Armee in seiner Person vereinte, schöpfte Breshnew neue Hoffnungen. Aber der patriotisch gesinnte General ließ sich das Gesetz seines politischen Handelns nicht von Moskau vorschreiben. Seine Linie bestand darin, alle Möglichkeiten einer nationalen Verständigung auszuschöpfen. Er forderte von Solidarnosc mehr Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und Einstellung der Streiks. Am 4. November 1981 berieten Jaruszelski, Primas Glemp und der gemäßigte Gewerkschaftsvorsitzende Walesa über eine Front der nationalen Verständigung zur Krisenlösung. Doch die Radikalen forderten Walesas Rücktritt und die offene Konfrontation mit der Regierung.
Die Tagung der Regionalvorsitzenden der Solidarnosc am 3. Dezember 1981 in Radom stellte indes neue Forderungen: gewerkschaftliche Kontrolle der Wirtschaft und freie Wahlen. Um sich wieder Autorität zu verschaffen, schwenkte Walesa um. Die Auseinandersetzung sei nun unausweichlich, man könne das System nicht stürzen, »ohne ihnen allen die Fressen zu polieren«, so Walesa. Beschlossen wurde, für den 17. Dezember 1981 in Warschau eine Massenkundgebung anlässlich des 11. Jahrestages der Arbeiterunruhen an der polnischen Ostseeküste zu organisieren und mittels Generalstreik die Staatsmacht zu usurpieren. Solidarnosc hatte den Gesellschaftsvertrag von 1980 gebrochen; unterminiert hatten ihn allerdings die Konservativen in der PVAP. Vergeblich versuchte Primas Glemp nach der Kriegserklärung von Radom einzulenken. Er warf Walesa vor: »Durch ihre Politik gehen Sie über die Grenzen des Mandats hinaus, das Sie von den Arbeitern bekommen haben...«
Am 5. Dezember 1981 wurde Jaruszelski vom Politbüro der PVAP ermächtigt, zu handeln. Noch am 10. Dezember 1981 herrschte im sowjetischen Politbüro Ungewissheit. Andropow informierte, dass Jaruszelski seine Pläne verberge, und er wog die Eventualitäten ab: Polen kommt unter die Macht von Solidarnosc oder der Westen verhängt gegen die UdSSR Sanktionen. Sein Fazit: »Wir müssen uns um unser Land sorgen. Das ist unsere Hauptlinie.« Erst am 12. Dezember 1981 wurde der Kreml informiert. Am Folgetag erklärte Jaruszelski das Kriegsrecht. Für ihn wie für Breshnew war dieser Schritt das kleinere Übel. Es gibt Indizien, dass Moskau eine Militärintervention riskiert hätte, um einen Ausbruch Polens aus dem sowjetischen Machtbereich und damit eine grundlegende geopolitische Veränderung zu verhindern. Selbst der neue amerikanische Präsident Reagan, der einen weitaus härteren Kurs gegen das »Reich des Bösen« ansteuerte als sein Vorgänger, hielt am Status quo fest. Er wollte »keine falschen Signale ausschicken und die Menschen nicht zu der Annahme bewegen, wir würden im Fall einer Revolution auf ihrer Seite intervenieren«.
Der polnische Historiker Paczkowski bezeichnet im »Schwarzbuch des Kommunismus« das Kriegsrecht 1981 als »Versuch einer totalen Unterdrückung«. Mehr als 10000 Polen seien zeitweilig in 49 »Isolationszentren« interniert worden, 14 Menschen hätten ihr Leben verloren. Ob es überhaupt eine unblutigere Krisenlösung gab, ist für ihn uninteressant.
Merkwürdig ist, dass die Väter der polnischen Verfassung nicht im entferntesten an die Möglichkeit einer Situation, wie sie 1981 entstanden war, gedacht hatten. Die polnische Verfassung von 1952 und ihre Novellierung 1976 sah einen Ausnahmezustand nicht vor. Nach Artikel 33 aber war mit Zustimmung des Sejm oder des Staatsrates als Interimsparlament möglich, den Kriegszustand auszurufen. Kanadas Premier Trudeau sprach aus, was nicht wenige Staatsmänner damals dachten: »Das Kriegsrecht ist gar nicht so schlecht, denn es hat einen Bürgerkrieg verhindert!« Und in der Tat sind die Geschehnisse in Polen vor 20 Jahren nicht vergleichbar mit etwa dem terroristischen Staatsstreich, wie ihn Pinochet 1973 in Chile mit Unterstützung westlicher Demokratien gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Allende unternommen hatte. Aus den polnischen Umfragen zwischen März und Dezember 1982 geht hervor, dass 56 bis 70 Prozent der Bevölkerung das Kriegsrecht als gerechtfertigt ansahen; noch 1991 waren laut »Pentor«-Institut 56 Prozent dieser Meinung.
Dennoch: Der Kriegszustand unterbrach den Prozess der nationalen Aussöhnung und Demokratisierung. Jaruszelski vertrat 1992 die Ansicht, dass das Kriegsrecht »in einem gewissen Sinne die 1980/ 81 gebildete sozialpolitische Konstellation eingefroren und sie in eine andere historische Zeit und in eine andere geopolitische Dimension übertragen« hätte. Aus seiner Sicht ist der polnische Runde Tisch 1989 »in seinem Wesen eine Neuauflage des Konzepts des Rates der Nationalen Verständigung«, das 1981 versucht worden war, aber misslang.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/9789.es-war-das-kleinere-uebel.html