nd-aktuell.de / 04.09.2015 / Kultur / Seite 12

Der Prinz von Seoul

Andreas Gläser

Bevor sich meine digitalen Foto-Dateien ins Nirwana verabschieden, werde ich sie per Papier in klassischen Alben verewigen, wie es mir meine Ahnen vorlebten; denn wenn mir ein Stick in der Größe einer Kaugummipackung verloren geht, stehe ich nahezu ausgebrannt da. Eine Vorahnung lassen einige CDs erkennen, die zunehmend vor sich hinzirpen.

Derzeit bin ich mit der Aufarbeitung meiner Reisen der Nachwendezeit beschäftigt, mit dem dritten von mindestens vier Alben; beginnend mit Malta 1993, bastele ich an Südkorea 2009 und werde zu Silvester mit Kroatien 2015 abschließen. Davon träume ich. Diese Fotosammlung aufzuarbeiten, gestaltet sich zunehmend umfangreicher, da ich seit Malta 2007 einen vernünftigen Knipser besitze und die Anzahl der Treffer steigt. Verknipste ich in den Neunzigern zwei 36er-Filme und war froh, wenn 20 Fotos gelungen waren, kommen heute auf 111 Schüsse 99 Treffer.

Jedenfalls wurde ich zum 20. Jahrestag des Mauerfalls nach Seoul eingeladen, weil die dortigen Kulturveranstalter mich aufgrund meines Buchstabenträgers »Der BFC war schuld am Mauerbau« für geeignet hielten, dieses Jubiläum zu feiern. Sie wollten keine Jammerveranstaltung. Ich durfte mich für eine Woche als Prinz von Seoul fühlen, wurde allerdings nicht zum König befördert, da ich in einer Geschichte einräumte, dass es unter DDR-Jugendlichen durchaus Liebe gab. Die deutschen Studenten dort amüsierten sich darüber, weil sich die Koreaner so pikierten.

Außerdem äußerte der sympathisch angetrunkene Chef eines einheimischen Literaturvereins inmitten meiner Erinnerungen, die in einem saftig-grünen Park nahe der Mauer spielten, seinen Verdacht, dass ich das totalitäre DDR-System verharmlose. Ich fand sein Gelalle normal, doch der Moderatorin drohten die Augäpfel herauszuflippen. Zwei dufte Veranstaltungen hatte ich geschmissen, doch auf die zwischenzeitlich in Aussicht gestellten Übersetzungen meiner Bücher ins Koreanische mit anschließender dreimonatiger Tournee wollte niemand mehr angesprochen werden. Deshalb ordne ich im Album die vielen Visitenkarten nur kreuz und quer als Lückenfüller ein, zwischen den kryptischen Restaurantrechnungen und den exotischen Fotos.

Egal, das nächste Kapitel heißt Schottland 2010. Ein Fußballtrip ohne Kunst, Klamauk ohne Nachwehen. Irgendwann 2016 starte ich die Aufarbeitung der familiären Fotosammlung. Die ersten blassen Zeugnisse von vor 100 Jahren werden auf vier Seiten passen. Ab den Sechzigern lässt sich aus dem Volleren schöpfen. In den Achtzigern war ich ein hässlicher Pubertierender, deshalb wird es dort eine Lücke geben; in den Neunzigern knipsten meine Tanten aller Bundesländer viele Kaffeeklatschfotos, davon fliegen mindestens 77 Prozent über den Jordan.