nd-aktuell.de / 23.10.2015 / Kultur / Seite 12

Unerhört eindrücklich

Tugan Sokhiev und das Deutsche Symphonieorchester mit Messiaen, Hartmann, Beethoven

Stefan Amzoll

Es ist ein mit großem Bedacht ausgesuchtes Programm, welches das Deutsche Symphonieorchester (DSO) unter Tugan Sokhiev dem zahlreich erschienenen Publikum zu Gehör brachte: Olivier Messiaens frühes, sehr nachdenkliches Orchesterwerk »Les offrandes oubliées« (Die vergessenen Opfer), Karl Amadeus Hartmanns »Concerto funebre« für Solovioline und Streichorchester, das es viel öfter verdiente, geweckt zu werden (Solist: Vladimir Spivakov) und Beethovens 3. Sinfonie »Eroica«, jenes Wunderwerk, das dem revolutionär Errungenen der Französischen Revolution die Macht musikalischer Sprache verlieh, eine Macht, die ungebrochen fortbesteht. Unerhört eindrücklich diese Werkfolge, dargeboten in bestechender Wiedergabequalität.

Das Verbindende der Stücke ist die Dimension der Trauer. Unterschiedlich graduiert ist sie den Sätzen oder einzelnen Teilen immanent. Messiaens »Méditation symphonique«, so lautet der Untertitel, gebietet über Eigenheiten von Trauer im Eröffnungsteil klar und einfach. Die Ecksätze, übersetzt »Das Kreuz« (sehr langsam, schmerzvoll, tief traurig) und die »Eucharistie« (mit großem Mitleid und großer Liebe), haben nur wenige Melodietöne. Die Intervallstruktur geht nicht viel weiter als bis zur Quinte, die Instrumentation gibt keine größeren Rätsel auf. Modelle der Gregorianik winden sich behutsam girlandenförmig durch die knappe, so schwärzliche wie lichte Form dieser Eckteile. Wild, verzweifelt, atemlos hingegen der gleichfalls äußerst ökonomisch formulierte Mittelteil »Die Sünde«. Ein Aufbegehren, ganz unspektakulär, eher gefasst, in keinem Tonfall dem Entsetzlichen der Apokalypse angelehnt. Eine moderne, Reflexe auf die seinerzeitige Wirklichkeit (Elend der Weltwirtschaftskrise) nicht aussparende Arbeit des tief gläubigen Franzosen, die ins Ende seiner Studienzeit bei Paul Dukas 1930 fällt. Obschon von den DSO-Musikern ausdrucksmäßig maximal ins Bild gesetzt, tat sich das Publikum eher schwer mit dem Werk.

Das besserte sich bei Hartmanns »Concerto funebre«, bei der »Eroica« ohnehin, obwohl die selbst geschulten Ohren sich keineswegs sofort erschließt. Ein besserer Solisten als der schon betagte, gleichwohl die beste Geigenkultur tadelsfrei verwirklichende Vladimir Spivakov ließ sich nicht wünschen. »Kunst kann nur von Aufschrei kommen, nicht von Beruhigung«, sagte Hartmann einmal. Das ist freilich wahr und subordiniert weitere Wahrheiten. Denn seine Musik umfasst sehr verschiedene Schreie und Aufschreie. Solche führen die Vorhöfe der Explosionen mit, auch die Ruhe, die vor der Beunruhigung liegt. Sie birgt das überfallartige Crescendo und Decrescendo, zudem die kreatürliche Leisheit, ja Unhörbarkeit der Adagios gleichermaßen. »Schweigen ist der Rest der Meisterschaft.« All das nennt das »Concerto« sein eigen. Abgelöst von den Umständen seiner Entstehung kann das Werk nicht begriffen werden.

Einscheidend ist das Jahr 1933 in Deutschland. Hartmann litt als politisch Verfolgter unter dem geistigen Terror des Nazi-Regimes. In der lebensgefährlichen Nische der inneren Emigration lebte und arbeitete er während dieser Zeit völlig isoliert unter widrigsten Bedingungen. Als Deutschland die Blitzsiege der Wehrmacht 1939/40 bejubelt, trauert Hartmann mit seinem Violinkonzert, einem unglaublich schönem Werk, das er später umarbeitet und »Concerto funebre« nennt. Trauer sei nötig und unabdingbare Pflicht. Erst als der deutsche kriegerische Wutausbruch an der Ostfront erstmals gestoppt wird, verfällt der Münchener Exilant in Triumphgesänge. Nach dem Kriege ist Hermann Scherchen der erste, der Hartmannsche Werke aufführt, darunter das »Concerto«. Gelte das Wort Humanität in seiner vollen Bedeutung noch etwas, so träfe es auf Leben und Kunst Hartmanns uneingeschränkt zu. »Würde des Komponisten war für ihn Würde des Menschen«, schrieb Bernd Alois Zimmermann über seinen Lehrmeister. Hartmanns Musik richtete sich der Intention nach an alle, nicht nur an einen Kreis von Spezialisten. Das war sicher illusionär gedacht. Der westdeutsche exklusive Kulturbetrieb ließ solche Vorstellungen längst lachhaft erscheinen. Trotzdem hielt der Komponist an ihr fest.

Das »Concerto funebre« entstand im Herbst 1939. Die vier Sätze - Choral, Adagio, Allegro, Choral - gehen pausenlos ineinander über. Der erste Choral wird hauptsächlich von der Solostimme getragen. Der zweite Choral am Schluss hat den Charakter eines langsamen Schreitens, mit einer liedartigen Melodie, die auf die bekannte Weise »Unsterbliche Opfer« aus der russischen Arbeiterbewegung zurückgeht. Dem Adagio völlig ebenbürtig ist ein Allegro zur Seite gestellt, ein Satz, der eigentlich nicht in das Konzept einer Trauermusik passt, sondern als Signum von Wut und Protest gehört werden kann.

Vladimir Spivakov, er verdient wahrlich große Bewunderung, spielte den Solopart mit einer Innigkeit (und keineswegs vibratolos, wie es allseits Mode geworden ist), die ihresgleichen sucht. Wie gemeinhin üblich, wurde eine Zugabe fällig. Kein Ohrwurm beleidigte den Saal, sondern Tugan Sokhiev ließ den Trauerteil »Unsterbliche Opfer« wiederholen. Eine starke Geste.

Dass die Wiedergabe der »Eroica« mit ihren unerhört mutigen, teils über Fugenprinzipien polyphon aus den Nähten gerissenen Durchführungsteilen und sonstigen dramatischen Erstaunlichkeiten vollends gelang, bleibe hier nur zu erwähnen.