nd-aktuell.de / 04.11.2015 / Politik / Seite 2

»Alternativen werden nicht diskutiert«

Der Soziologe Stefan Selke über fehlende nachhaltige Armutsbekämpfung

Vor 20 Jahren wurde der Bundesverband der Tafeln gegründet. Gratulieren Sie?

Der Bundesverband ist ja eine Art moralisches Unternehmen, das versucht, seine Marke, die Tafeln, ebenso ins Bewusstsein zu bringen wie Tempotaschentücher oder Adidas-Turnschuhe. Das Ziel ist, dass man an Alternativen nur in der minderwertigen Form denkt. Klar gibt es andere Taschentücher und Turnschuhe, aber das sind eben nicht die Originale. Die Tafel ist zur Originalmarke der Armutslinderung geworden und zum Monopolist im Feld der Hilfsbedürftigkeit.

Was ist daran problematisch?

Der Bundesverband tritt auf wie ein Unternehmen der Hilfsindustrie, mit einer Effizienzlogik, die aus der Wirtschaft kommt. Als solches bietet es hochprofessionelles Reputationsmanagement für Firmen und Sponsoren an, die das für ihre CSR-Strategien zu nutzen wissen. Dabei kommt es jedoch keineswegs zu einer Win-Win-Situation, in die auch die Armutsbetroffenen einbezogen sind. Vielmehr zeigen die Tafeln, welche Not die Gesellschaft gerade noch akzeptieren kann. Schleichend wird diese »Grenznot« verschoben, weil sie Armutslinderung statt Armutsbekämpfung betreiben.

Wir gewöhnen uns also an Armut und der Bundesverband unterstützt das, statt sich überflüssig zu machen?

Inzwischen ist ein sehr mächtiges moralisches Unternehmen entstanden, mit vielen angegliederten Personen und Akteuren, die sich mittlerweile auf eingespielte Interessen verlassen müssen. In diesem System wäre es geradezu dysfunktional, wenn Armut wirklich bekämpft würde. Nachhaltige Armutsbekämpfung ist nicht im Interesse der Gesellschaft und schon gar nicht im Interesse des Bundesverbandes, weil man mit Armut Profit machen kann. Die Tafeln wollen gebraucht werden, die Rhetorik, sie wären am liebsten überflüssig, ist meilenweit entfernt von der Praxis.

Aber der Bedarf ist doch da?

Die weiterführende Frage ist aber, wo diese Bedarfslücke aufgetreten ist. Die Hartz-IV-Regelsätze reichen nicht, um menschenwürdig zu leben. Gleichzeitig gibt es auch auf der Ebene der Praxis der Tafeln viel Kritik von Seiten der Armutsbetroffenen, die diese als schambesetzte Räume empfinden.

Sie sprechen aber auch davon, dass Menschen ein »Recht auf Tafel« entwickeln.

Ja, wir können qualitativ zeigen kann, dass bestimmte Nutzer der Tafeln inzwischen glauben, sie hätten ein Recht auf Tafeln. Hier hat sich komplett etwas verschoben, was irgendwann den Tafeln wirklich Probleme bereiten wird. Die Tafeln haben diese Stellvertreterfunktion willentlich übernommen und sind jetzt in einem Dilemma gefangen. Einerseits wollen sie diesen Pannendiensteffekt leisten, andererseits können sie ihn nicht garantieren, weil sie eben keine staatlichen Einrichtungen sind, auf die Menschen ein Recht haben, sondern freiwillig.

Armutsbetroffene haben also eher das Gefühl ein Recht auf Tafel zu haben als dass sie fordern, die Hartz-IV-Sätze müssen erhöht werden?

Das halte ich für eine gewagte These, etwa, man kann an den Regelsätzen nicht drehen, also versuchen wir die Tafel besser zu machen. Ein Indikator dafür wäre allerdings, dass die Diskussion innerhalb und außerhalb der Tafelbewegung lediglich darauf abzielt, alternative Tafeln zu etablieren, statt Alternativen zu Tafeln zu bedenken. Das heißt, der Ersatzraum der Tafeln soll weiter ausgebaut, professionalisiert und mit anderen Angeboten kombiniert werden. Alternativen zu Tafeln, wie Grundeinkommen oder »nur« die Erhöhung von Regelsätzen, das wird nicht diskutiert. Und das ist eigentlich das für mich maßgebliche Armutszeugnis unserer Gesellschaft.