Wege aus dem Jungle...
Gefangen im Status Quo
Trotz Ostern ist einiges passiert, von dem wir berichten können. Wir hatten am Sonntag verschlafen, das Morgenplenum verpasst, uns kurz geärgert. Aber dann das schlechte Gewissen erfolgreich verdrängt. Erstens war ja Zeitumstellung. Zweitens gibt es an Wochenenden sehr viele Freiwillige, die im Warehouse und bei Calais Kitchen aushelfen. Die meisten short-term-volunteers kommen aus England, denn die Anfahrt ist kürzer als aus vielen Regionen Frankreichs und Help Refugees (die britische Partnerorganisation von L›auberge) scheint auf der Insel über ein großes Netzwerk zu verfügen.
Ausnahmsweise fit und munter, fuhren wir also auf eigene Faust ins Camp, wo auch erst gegen Mittag das Leben erwacht. Jungle Books jedoch war schon gut besucht. In der Bibliothek blätterte jemand in einem Wörterbuch. Auf dem »Hof« zwischen den Hütten saß der Bibliothekar Sharif* mit einigen Freunden über einem Teller Reis mit Bohnen und Salat, welches das Calais-Kitchen-Mobil gerade geliefert hatte. Ein paar Leute hatten in der Schule Platz genommen und warteten auf die Französisch-LehrerInnen. Wir installierten die Drucker und Kopierer und notierten, was an Baumaterial und Equipment aktuell benötigt wird: 50 Meter Stromkabel, Verteilersteckdosen für Smartphone-Ladestationen und Fassungen für Glühlampen. Dann suchten wir mit Sharif* und dem Jungle-Books-Supporter Rowan ein Plätzchen im Windschatten, direkt neben dem jaulenden Notstromgenerator. Wir wollten uns ja noch einmal über Möglichkeiten unterhalten, wie wir Jungle Books weiter unterstützen können. Da dies ein Lern- und Medienort in Einem ist, von Bewohnern selbst mit gebaut und geleitet wird, und es im Camp einen großen Bedarf an Sprachunterricht, WiFi und Medienzugang gibt, halten wir einen gezielten und nachhaltigen Support dieses Projektes für sinnvoll.
Für den Refugee Information Bus, also das mobile Media Center, werden Laptops benötigt. Zwei robuste Router haben wir schon bestellt. Sie dürften Ende dieser Woche einsatzbereit sein und ermöglichen 60 Smartphones einen Internetzugang. Sharif* hat schon angekündigt, dass sich ab dann mit Sicherheit täglich dutzende CampbewohnerInnen auf dem Hof und um die Bibliothek zum surfen, recherchieren und kommunizieren treffen werden. Schade, dass wir Donnerstag schon zurück fahren müssen.
Orkanböen richten schwere Schäden an
Dies war im wesentlichen unser Ostersonntag, Ostermontag, war auch im restlichen Camp viel zu tun: Orkanböen haben in der Nacht und im Laufe des Tages an vielen der Hütten teils schwere Schäden angerichtet, die wir heute zusammen mit den Bewohnern des Jungle zu reparieren versuchten. Bei einigen Dächern ist auch das nicht mehr möglich - sie sind irreparabel zerstört. Bei den klimatischen Verhältnissen hier an der Küste weiß niemand, wann der nächste Sturm über die ‹Dünen› fegt, auf denen das Camp errichtet wurde, aber auch keiner der Bewohner kann abschätzen, wieviele Tage, Monate oder gar Jahre seine Hütte noch durchhalten muss. Die Menschen sind gefangen im Status Quo und Calais wird höchstwahrscheinlich nicht so schnell von der Fluchtroute verschwinden. Wir haben bei der Spendenausgabe und in Jungle Books mit einigen Bewohnern gesprochen und festgestellt, dass viele im Schnitt seit einem halben Jahr hier sind.
Manche versuchen es noch jede Nacht auf eigene Faust, andere erzählen von Terminen mit Schleppern, deren Preise mit zunehmender Abriegelung des Ärmelkanals in die Höhe schnellen. Aktuell kostet eine Überfahrt um die 2000 Euro. Faktisch ist es inzwischen nahezu unmöglich, ohne professionelle Fluchthilfe auf die Insel zu gelangen. Die Geschichten der Wenigen, die es schaffen, geben Anderen Kraft, es weiterhin zu probieren. Manche jedoch haben den Versuch aufgegeben, sei es aus Geldmangel oder, wie der Bibliothekar Sharif* aus eigener Erfahrung erzählt, aufgrund traumatischer Unfälle während der Flucht. Nun warten sie, ob sich vielleicht doch irgendwann die Grenzen öffnen. Ob das jemals geschieht, und wie lange es dauert, kann ihnen niemand sagen, denn dies ist auch eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Was daraus folgt ist die Einrichtung im Elend.
Wenn wir also über den Jungle von Calais als Flüchtlingscamp sprechen ist das eigentlich nur halb richtig - der Begriff des Slums scheint angebrachter: Auf der ‹Hauptstraße› drängen sich Restaurants und Kioske in Bretterbuden dicht aneinander, während auf den matschigen Wegen dichtes Gedränge herrscht, durch das sich immer wieder Transporter der HelferInnen quetschen. In den Gräben sammeln sich Müll und undefinierbare Flüssigkeiten, deren Geruch sich mit dem von verbranntem Kunststoff vermengt und das ganze Gebiet einhüllt. »Niemand ist gerne im jungle« sagen die Bewohner*innen nicht nur, aber auch auf jungala radio.
*Namen geändert
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