Fußball ist die beste Ablenkung
Vier Jahre nach der Heim-EM hoffen viele Ukrainer auf EM-Erfolge der Nationalelf
»Die Chancen gibt es auch dann, wenn es sie nicht gibt«, scherzte Mychajlo Fomenko. Der Cheftrainer der ukrainischen Nationalmannschaft ist sich der Außenseiterrolle seiner Mannschaft bei der Fußball-EM in Frankreich sehr wohl bewusst. »Wir stehen aber vor allem jetzt in ganz besonderer Verantwortung«, betonte der 67-Jährige wenige Tage vor der Abreise ins EM-Quartier nach Aix-en-Provence, wo sich sein Team dieser Tage auf das Auftaktspiel gegen Deutschland vorbereitet. Seine Karriere wird der erfahrene Fußballlehrer, der auch Spitzenvereine wie Dynamo Kiew trainierte, danach womöglich beenden. Es gilt bereits als offenes Geheimnis, dass sein Co-Trainer Andrij Schewtschenko die Nationalelf danach übernehmen soll.
Vor vier Jahren war es Schewtschenko, einer der größten Nationalhelden der Ukrainer, der den Fans den größten Glücksmoment der Heim-EM bereitete. Im Kiewer Olympijskyj-Stadion schoss der ehemalige Angreifer von AC Mailand und Chelsea FC gegen Schweden gleich zwei Tore - und schenkte der Ukraine den einzigen Sieg. Vieles hat sich in dem Land seither verändert: Der Ex-Präsident Viktor Janukowitsch wurde nach den Protesten auf dem Maidan abgesetzt, die Krim von Russland annektiert, der blutige Krieg im Donbass geht derweil immer weiter. Rund um den Olympijskyj dreht sich jedoch wie vor vier Jahren alles um die Fußball-EM. Im schnellen Tempo wird in der Nähe des Stadions eine große Fanmeile aufgebaut, die am Sonntag beim Spiel gegen Deutschland zum ersten Großeinsatz kommt.
»Ich freue mich so sehr, dass die EM bald beginnt - und dass die Ukraine dabei ist. Der Fußball ist die beste Ablenkung, die unser Land haben kann«, sagt der 30-jährige Igor, Fan vom einst erstklassigen Verein Arsenal Kiew, am Rande einer der ersten EM-Partys in der Hauptstadt. Dabei sind der Fußball und die Nationalmannschaft wie kaum eine andere soziale Erscheinung mit der politischen Lage und dem Krieg im Osten verbunden. Führungsspieler wie Andrij Jarmolenko besuchen ständig die Militärkrankenhäuser, Angreifer Roman Sosulja hilft der Armee als Freiwilliger - und viele Ultras, die hierzulande meist als rechts gelten, kämpfen selbst an der Front.
Gleichzeitig kommt das Herz des ukrainischen Nationalteams aus dem Donbass. Schachtjor Donezk und Sorja Luhansk, die beiden derzeit im westukrainischen Exil spielenden Vereine aus der hart umkämpften Region, delegierten trotz aller Schwierigkeiten gleich zehn Spieler in den endgültigen EM-Kader. Während die ukrainische Presse schon seit Jahren über die politischen Ansichten des Schachtjor-Innenverteidigers Jaroslaw Rakizjkij diskutiert, weil er aus unbekannten Gründen die Nationalhymne nicht mitsingt, zerbrechen Trainer Fomenko andere Probleme den Kopf.
Die Spieler der beiden Spitzenklubs des Landes, Dynamo und Schachtjor, haben nicht gerade die besten Beziehungen zueinander. Das letzte Spiel Anfang Mai eskalierte zum echten Boxkampf zwischen den Nationalspielern Jarmolenko (Dynamo) und Taras Stepanenko (Schachtjor). »Offiziell ist der Konflikt beigelegt. Doch die Spannungen innerhalb der Nationalmannschaft sind schon deutlich zu spüren«, erzählt der Journalist Danylo Wereitin, der für den Sportsender TK Futbol das Nationalteam vor seiner Abreise lange begleitet hatte.
Auch politische Themen spielen rund um Fomenkos Mannschaft eine große Rolle, obwohl der ukrainische Verband FFU dies gern ausblenden würde. Noch Monate vor der EM begann in den heimischen Medien eine große Diskussion über die mögliche Nominierung von Spielern aus der russischen Liga. Vor allem die Ultras wollten, dass jene Fußballer nicht nominiert werden. Mychajlo Fomenko und die FFU haben auf ihre eigene Weise entschieden: Während die Spieler aus der russischen Liga im erweiterten EM-Kader fehlten, wurden drei von ihnen später nachnominiert. Schließlich haben sie es auch nach Frankreich geschafft, was ob der Intransparenz zu mehr Kritik am Verband führte als an den Spielern selbst.
Sportlich scheint die Ukraine allerdings nach den beiden Testspielsiegen gegen Rumänien (4:3) und Albanien (3:1) trotz aller Probleme und Diskussionen gut aufgestellt zu sein. Mit den beiden Stars Andrij Jarmolenko und Jewhen Konopljanka hat Fomenkos Mannschaft zwei international bewährte Spieler - und mit weiteren Leistungsträgern wie dem erfahrenen Torwart Andrij Pjatow und dem Mittelfeldtalent Wiktor Kowalenko könnte die Ukraine eventuell auch gegen Deutschland eine überraschend starke Leistung abrufen.
Daran glaubt zumindest Trainer Fomenko, der als sehr defensiv und konservativ gilt: »Wir müssen uns auf keinen Fall verstecken - und werden für Überraschungen sorgen können.« Wenn das stimmt, könnten seine Landsleute nach dem ESC-Sieg von Jamala in Zeiten des Krieges und der Krise weitere positive Überraschungen feiern.
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