Täuschung und Enttäuschung
En Passant - das EM-Tagebuch: Alexander Ludewig findet kaum Fußballbegeisterung in Paris
Seit drei Tagen rollt der Ball in Frankreich. Zumindest offiziell. Davon soll auch die überdimensionale weiß-orangene Luftkugel, die am Eiffelturm hängt, künden. Die optische Täuschung fällt am Freitag, dem Abend des Eröffnungsspiels der EM, nur bei genauerem Hinsehen auf. Allein die projizierte Tricolore dreht sich unaufhörlich, der Riesenball hängt starr wie schon die Tage zuvor.
Auch der Alltag scheint unberührt. Läuft man durch die Straßen von Paris, führt kaum einen Spur zu diesem Großereignis. Nach einer Viertelstunde Fußweg das erste Fußballtrikot: viel Gelb, etwas Blau und Rot. Rumänien? Die nächste optische Täuschung aus der Ferne: Es sind nicht die Farben des Gegners von Frankreich, sondern die kolumbianischen. Kolumbien spielt gerade bei der Copa America.
Dass die Europameisterschaft die Pariser nicht in Hysterie versetzt, ist durchaus sympathisch. Wenn aber die Suche nach dem rollenden Ball auf irgendeinem Bildschirm zur Anstrengung wird, wünscht man sich doch etwas mehr Begeisterung im Land des Gastgebers. Vielleicht ja hier? Aus dem Eckcafé Le Diplomate dringt Lärm. Tatsächlich: Zehn Männer stehen vor einem Fernseher und verfolgen gespannt das Geschehen. Es spielen ja auch gerade die Waliser gegen die Slowakei. Enttäuschung statt optischer Täuschung: Hier wird gewettet, live, auf Pferderennen. »Football?« »Non«, antwortet der Wirt und schaut wieder nach oben auf den Bildschirm. Ohne den Blick zu senken gibt er mit einem Achselzucken zu verstehen, dass er mir nicht weiterhelfen kann.
Beim nächsten Spiel geh ich auf Nummer sicher. Nach einem Telefonat steht die Verabredung mit einem Kollegen. Zwei französische Freunde von ihm wollen auch kommen, um England gegen Russland zu schauen. Mit der Metro geht’s ins 18. Arrondissements. Direkt gegenüber der Station Jules Joffrin werde ich im Café du Place schon erwartet. Der Kollege sitzt allein da. Die Freunde kommen doch nicht. Einer ist beim Straßenfest geblieben, der andere guckt lieber das Spiel von Stade Toulousain. Kein Fußball, Rugby.
Egal. Drinnen sind zwei Fernseher. Wir gehen rein. Der Kellner schaut sich skeptisch um, der Raum ist nur zu einem Viertel gefüllt. Schließlich lässt er sich doch überreden, statt wummernder Musik den Ton zum Spiel laufen zu lassen. Wirklich viel mitbekommen vom Unentschieden haben wir nicht, andere Themen waren dann doch spannender.
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