Kritisieren, dirigieren, animieren

»Feuer!« - Zwanzig Fünftklässler der Hellersdorfer Mozart-Schule spielen Theater

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 4 Min.

Eigentlich ist es gar nicht so brütend heiß. Weder draußen vor der Tür noch hier drin. Wer Cindy Ehrlichmann sieht, könnte trotzdem meinen, wir befänden uns nicht in Werkstatt vier der Alten Börse Marzahn, sondern mitten in der Wüste. Mit hochrotem Kopf, schweißnasser Stirn und weit aufgerissenen Augen steht die Theaterpädagogin an diesem Dienstagnachmittag zwischen den Stühlen im Zuschauerbereich und blickt auf die Bühne, wo zwei Schauspielerinnen, ein Schauspieler, ein Musiker und knapp 20 Fünftklässler der Hellersdorfer Mozart-Schule rund um ein Bällebad die letzten Szenen des Recherchestücks »Feuer!« proben.

In zwei Tagen ist Premiere. Da fällt es schwer, beim Feintuning gelassen zu bleiben; zumal im Angesicht der vorgerückten Stunde, die der Konzentration innerhalb der Gruppe nicht eben zuträglich erscheint. Ehrlichmann aber lässt sich durch die Unruhe der Kinder nicht aus dem Konzept bringen. Sie kritisiert, dirigiert, animiert, applaudiert - immer unterstützt durch Klassenlehrerin Maxi Stier, die am Rande sitzt, um dann und wann dazwischenfunken zu können (»Vasil, jetzt is› aber auch ma‹ gut!«).

In mehreren Reihen wenden sich die Schüler dem Publikum zu und zischen mit forschem Flüstern ihre Forderungen: »Mehr Personal! Kleinere Klassen!« Mit jedem weiteren Ausspruch nähern sie sich den Zuschauern schrittweise an: »Sonderpädagogen! Politiker, die hinsehen!« Dazwischen mimt Günther Lindner einen überforderten Lehrer: »Ich komme mir vor wie ein Stück Holz, von dem jeden Tag ein bisschen abgeraspelt wird, und irgendwann zerbreche ich.«

In einer jener Pausen, die sich die Kinder in einer Art Acclamatio einfordern dürfen, sinkt Ehrlichmann in einen Stuhl und pustet die eben schwungvoll eingesogene Luft sogleich kräftig heraus. Im vergangenen Jahr geriet die Mozart-Schule nach einem Brandbrief der Eltern an die Schulverwaltung in die Schlagzeilen. Schüler sollen Lehrer mit dem Messer bedroht, Gewalt auf dem Schulhof zum Alltag gehört haben. Cindy Ehrlichmann wusste, worauf sie sich einließ, als die Schule ihr das Projekt anbot: »Ich mache schon länger Jugendtheater an sogenannten Brennpunktschulen. Bis jetzt hatte ich immer viel mehr Freud› als Leid dabei.«

Für »Feuer!« interviewte sie Lehrkräfte und Schüler, um eine theatrale Collage zu schreiben »über Chaos, Gewalt und Erschöpfung an der Schule«. Von all dem ist hier nichts zu spüren. Keiner drängt in den Vordergrund, niemand ist aggressiv. Maxi Stier versichert, seit dem Brandbrief habe sich manches verbessert. Warum sie das Werk dennoch auf der Bühne sehen will: »In den vergangenen Monaten haben die Kinder soziale Fähigkeiten erlernt, die wir im Schulalltag schwer vermitteln können.«

Nach dem Durchlauf weiterer Szenen toben einige Schüler im Hof, andere ruhen sich aus - und wieder andere wollen über die Proben sprechen. Da ist etwa die elfjährige Yekaterina, die schon im Märchentheater auftrat. Sie fühlt sich wohl auf der Bühne und möchte später »Schauspielerin, Sängerin oder Paparazzi« werden.

Die ebenfalls elfjährige Vanessa wiederum möchte »lieber was anderes als Kunst« machen, derweil der eigentlich eher dem Fußball zugeneigte Lukas (11) sich freut, dass Ehrlichmann »das Theaterteam« bisweilen strenger ermahnt: »Sonst würden ihr alle auf der Nase herumtanzen.«

Als die zehnjährige Chantal nach einem Sturz weinend zur Toilette läuft, kann Maxi Stier nur mit Mühe verhindern, dass alle zehn besorgt zu Hilfe eilenden Kinder der lädierten Mitschülerin in den engen Raum folgen. Die konkreten Forderungen der Kinder dürften an den pflichtschuldig zur Premiere erscheinenden Lokalpolitikern abprallen. Die Klasse aber entkräftet auf und jenseits der Bühne schon jetzt das Klischee vom prügelnden Problemkind - und erteilt dem Theaterpublikum damit eine ganz besondere Lektion.

Premiere ist am heutigen Donnerstag um 19 Uhr in der Alten Börse Marzahn (Zur Alten Börse 59). Weitere Aufführungen am 1. Juli (10 und 13 Uhr) in der Alten Börse sowie am 8. Juli (10 und 19 Uhr) im Theater o.N. in Prenzlauer Berg (Kollwitzstraße 53).

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