Zwingend links
Über Risiken, Bündnisfähigkeit, Eigenständigkeit - und die Fähigkeit, zuhören zu können. Ein Debattenbeitrag von Dietmar Bartsch
Das Wahljahr 2017 beginnt im Februar mit der Bundespräsidentenwahl, gefolgt von den für DIE LINKE wichtigen Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen und findet seinen Abschluss mit der Bundestagswahl im Herbst. Unsere Partei befindet sich in einer Debatte über Wahlstrategie und -programm.
Zuletzt sorgte meine Äußerung in der »Rheinischen Post«, Sigmar Gabriel (SPD) »könnte in der nächsten Woche Kanzler sein« für Aufmerksamkeit. Unter ging jedoch, welche Bedingungen an die Aussage geknüpft waren. Das überrascht wenig, bedenkt man die Hektik des Medienbetriebs.
Aktuell gibt es zunehmend ernsthaft geführte Debatten um Mitte-Links-Bündnisse. Anders als in den letzten reichlich zwei Jahrzehnten stellt die SPD dafür keine Verbotsschilder mehr auf. Vor drei Wochen gelang es, über 90 Politiker*innen aus der Sozialdemokratie, von der LINKEN und von den Grünen zu einer größeren Verständigung zusammen zu bringen. Diese Dynamik lässt sich nicht mehr ignorieren. Sie zwingt uns, über Bündnisfähigkeiten ernsthaft und jenseits von Ritualen und Reflexen, nachzudenken.
Tatsache ist, dass die neoliberale Modernisierung, die seit den 90er Jahren an Fahrt aufnahm, nicht nur von Konservativen und FDP-Liberalen vorangetrieben worden ist, sondern auch von SPD und Grünen. Zugleich sind ihre negativen sozialen Folgen so deutlich: Es gibt eine Million Leiharbeiter*innen, jeder vierte Arbeitsplatz bei Jugendlichen ist prekär, jedes siebte Kind wächst in einer Hartz-IV-Familie auf. Angesichts dieser Fakten wird auch in der SPD und bei den Grünen über einen Politikwechsel diskutiert. Weil ein Politikwechsel nötig ist, sage ich, dass wir die bestehende Bundestagsmehrheit nutzen sollten, um eine fortschrittliche Politik einzuleiten. Das ist nicht ohne politisches Risiko. Wir wissen nicht, ob sich eine solche Politik durch Wahlen im kommenden Jahr bestätigen ließe. Der Reiz eines sofortigen Mehrheitswechsels bestünde aber darin, einen Politikwechsel entlang konkreter und bis zur Bundestagswahl nachvollziehbarer Inhalte zu vollziehen. Ein erkennbarer Linksschwenk stünde so als Alternative zum aktuellen Rechtsentwicklung zur Abstimmung.
Was heißt Politikwechsel? Wir leben in einer Gesellschaft, in der die soziale Ungleichheit wächst, in der es Armut gibt und in der die Demokratie zunehmender Bedrohung ausgesetzt ist. Ein Politikwechsel muss diese drei Problemkomplexe in Angriff nehmen, sonst ist er keiner. Die Richtung muss geändert, eine bessere Zukunft angestrebt werden. Das geht nur mit der LINKEN.
Hinzu kommt, dass das außenpolitische Umfeld zunehmend instabil wird. Um es am Beispiel zu sagen: Die Destabilisierung des Nahen Ostens und die Konfrontation mit Russland haben Auswirkungen, die an der Bundesrepublik nicht vorbeiziehen. Auch hier müssen von einer anderen Regierung Impulse ausgehen, die zu mehr Stabilität und Frieden beitragen. Frank-Walter Steinmeier hat recht, wenn er das Säbelrasseln der NATO für falsch hält. Doch was folgt daraus real?
Glaubwürdig ist ein Richtungswechsel nur, wenn er mit handfesten Reformen konkrete Gestalt bekommt: Die Armutsbekämpfung erfordert insbesondere den Kampf gegen Kinderarmut und die Einführung einer armutsfesten und den Lebensstandard sichernden Rente. Den Kampf gegen die wachsende soziale Ungleichheit kann man mit einer gerechten Besteuerung - Stichworte: Millionärs-, Vermögens-, Erbschafts- und Kapitalertragssteuer - beginnen. Schließlich kann ein anderer Umgang mit der Finanz- und Eurokrise für die Staaten Südeuropas den Einstieg bilden für eine Erneuerung der europäischen Demokratie. Das wären Einstiegsprojekte für Reformen, die Alternativen zur Politik der Großen Koalition bilden. Diese Koalition hat sich als unfähig erwiesen, Armut wirksam zu bekämpfen. Sie tut nichts gegen die wachsende soziale Ungleichheit und für gerechte Neuregelungen in der Steuerpolitik und besteht weiter auf der Aufrechterhaltung des europäischen Austeritätsregimes.
Ich sprach von einem politischen Risiko. Das resultiert auch aus einer inzwischen weit verbreiteten Skepsis gegenüber demokratischer Politik und ihren Institutionen. Die Annahme, dass Wahlentscheidungen Auswirkungen auf das konkrete Leben haben können, ist durch die neoliberale Politik in Mitleidenschaft gezogen worden. Daher artikuliert sich Krisenbewusstsein heute auch demokratieskeptisch bis antidemokratisch. Pegida und AfD sind Früchte dieser neoliberalen »Alternativlosigkeit«.
Es muss uns also bei der Erarbeitung des Wahlprogramms nicht zuletzt darum gehen, den Alltagserfahrungen derjenigen Menschen, die sich von der neoliberalen Modernisierung bedroht oder aufs Abstellgleis geschoben sehen, nicht nur eine Stimme zu geben und im Rahmen einer klassenpolitischen Signatur zu interpretieren. So können wir politische Konzepte und Lebenswelten vermitteln. Das ist etwas anderes als große Welterklärungen. In Zeiten großer Verunsicherung, in denen viele Menschen Veränderungen als Bedrohung wahrnehmen, ist DIE LINKE besonders gefordert: Sie muss sagen können, was sie besser machen und wie sie das tun will. Sie muss ausstrahlen, dass ihr politisches Abenteurertum fremd ist. Sie muss die Hoffnung vermitteln, dass sich das Leben durch Politik verändern lässt. Aus Hoffnung kann Zuversicht entstehen, und aus Zuversicht heraus kann sich Kampfkraft entwickeln.
Für mich ist klar: Wir LINKE müssen als eigenständige politische Kraft in die Kämpfe des kommenden Jahres gehen. Mit einem deutlichen Profil und mit Antworten auf die Fragen der Zeit. Vielen Menschen hierzulande brennt unter den Nägeln, ob sie Wohnung oder Haus weiter unterhalten können, ob der Arzt im Ort bleiben wird, ob Nahverkehr, Bildung und Kinderbetreuung zusammengestrichen, gar unerreichbar werden. Hier lohnt ein Blick zurück, nicht nur auf unsere Niederlagen 2016, sondern auch auf unsere Erfolge. Was kann unsere Partei beispielsweise aus der erfolgreichen Berliner Wahl oder manchen Ergebnissen in hessischen oder niedersächsischen Kommunen lernen? Wie gelingt es uns, an Erfolge von 2009 anzuknüpfen? Wir haben viele gute Konzepte, aber haben wir auch die entsprechende politische Kultur, in der diese verständlich rüberkommen?
»DIE LINKE hört zu« muss daher nicht nur ein Grundsatz der Wahlprogrammerarbeitung sein. Das ist ein Anspruch, der weit darüber hinaus gelten muss. Was wir dringend benötigen, ist ein Programm der menschlichen Bedürfnisse, jedoch keine Ersatz- oder Zusatzversicherung für unser Erfurter Grundsatzprogramm. Wir sind eine Partei mit Grundsätzen. Und das ist gut so! Woran wir jedoch aktuell intensiv arbeiten müssen: an einer Partei, die wieder mehr bei den täglichen Problemen der Menschen ansetzt. Dafür sollten, ja müssen unsere Vorschläge weiter gehen als die benannten Einstiege in einen Politikwechsel. Eine sozialistische Partei kann es bei einer gerechten Besteuerung nicht bewenden lassen. Sie muss auch eine andere Primärverteilung, also Veränderungen im Verhältnis von Kapital und Arbeit, anstreben, was ohne Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse nicht geht. Wir wollen ein anderes Wirtschaftsmodell als das aktuelle, das mit Niedriglöhnen riesige Ungleichgewichte in Europa erzeugt. Eine sozialistische Partei kann soziale Gerechtigkeit nicht nur im Inland wollen. Internationalismus heißt, die globale Ungleichheit zu bekämpfen, was mindestens eine andere Entwicklungspolitik erfordert und real zu einer Bekämpfung von Fluchtursachen beitragen kann. Eine sozialistische Partei muss konkrete Vorstellungen dazu entwickeln, wie sich die Demokratie aus dem technokratischen Korsett befreien lässt und wieder zu dem wird, was sie ihrem Geist nach ist: der öffentliche Ort der Austragung von Interessenkonflikten. Dazu bedarf es nicht zuletzt einer anderen, demokratischen EU. Eine sozialistische Partei kann keine fortschrittsfeindliche sein. Wir müssen die Chancen der Digitalisierung gegen die damit einhergehenden Verwerfungen einer industriellen Wende 4.0 stärken. Als LINKE stehen wir in der Pflicht, zusammen mit Wissenschaftlern aller Disziplinen, mit Ingenieuren und Programmierern Wege aufzuzeigen und durchzusetzen, damit steigende Produktivität und neue Technologien zu einem besseren Leben für alle führen.
Dies erfordert aber zugleich, dass wir als Partei zwingender werden müssen. Ich will dies mit einem Beispiel verdeutlichen: Wenn der Kampf gegen CETA eines gezeigt hat, dann dass Menschen sich nicht entmündigen lassen. Sie wollen die Demokratie stärken und diese nicht durch Hinterzimmer abbauen lassen. Uns aber ist es bislang nicht gelungen, aus diesem Moment heraus Schwung für weitere Inhalte zu ziehen. Es ist uns noch nicht gelungen, gesellschaftliche Widerständigkeit zu transportieren auf das weite Feld demokratischer Aneignung und Teilhabe. Hier muss unsere politische Arbeit, unsere Durchsetzungs- oder Umsetzungsstrategie zwingender und nicht zuletzt verständlicher werden. Markige Worte allein genügen nicht.
Entscheidend ist: All das ist machbar. Politik vermag das Leben zu verändern. Und dafür bedarf es der LINKEN. Deshalb sind und bleiben wir eigenständig und lassen uns nicht zum Anhängsel einer parteipolitischen Konstellation machen. Vor allem können wir den Wähler*innen Garantien abgeben. Wer links wählt, bekommt keine Abgeordneten, die am Ende doch Merkel zur Kanzlerin machen. Bei SPD und Grünen gibt es diese Gewissheit nicht. Wer aber Regierungsverantwortung grundsätzlich ablehnt, erklärt Angela Merkel so zur ewigen Kanzlerin. Gleichzeitig werden wir niemals nur um des Regierens Willen in eine Regierung eintreten. Ein fortschrittlicher Politikwechsel ist unsere Bedingung. Machen wir deutlich: Zum Status Quo gibt es Alternativen. Es gibt Weggabelungen. Bleibt es bei wachsender Armut und wachsender Ungleichheit oder nicht? Bleibt es bei der technokratischen und reformunwilligen Politik oder nicht? Bleibt es bei einem Europa, das auf seinen Zerfall zusteuert oder nicht? Wir können zeigen, wo wir stehen. Wir wollen nicht nur irgendwo stehen, sondern auch handeln. Für positive Veränderungen kann Mitte-Links sinnvoll sein. Nur DIE LINKE kann darin tatsächlich linke Impulse aufnehmen, also einem Politikwechsel die nötige Schubkraft verleihen.
Der sich vollziehende Rechtstrend ist längst zu einem rechten Kulturkampf geworden, in dem Erkämpftes in Frage gestellt werden soll. Darauf hat nicht allein die AfD das Patent. Auch vor CDU und CSU hat der Rechtstrend nicht halt gemacht. Dass wir die Kraft für eine Linkswende entfalten können, haben Brandenburg, Thüringen und Berlin nachgewiesen. Ein Politikwechsel ist aber auch auf der Bundesebene in der zentralen Industriemacht Europas dringend notwendig, um das große Projekt »Europa« als eines des Friedens und der Kultur nicht endgültig zu zerstören.
Dietmar Bartsch ist Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag.
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