Optimismus des Willens
Meinungspolitische Belagerung, linksliberale Schubladen, linke Fehler: Nachbetrachtungen eines radikal widerwilligen Macron-Wählers
1. Meinungspolitische Belagerung aus Deutschland
In den vergangenen zwei Wochen haben etliche Stimmen aus Deutschland auf mich und meinesgleichen eingeredet, die bei der französischen Präsidentschaftswahl wahlberechtigt waren. Der Tenor war eindeutig: »Du MUSST Macron wählen.« Auch die Meinungsmache des deutschen Mainstreams war unerträglich, aber eine Trotzreaktion ist für folgenreiche Wahlentscheidungen ein schlechter Ratgeber.
Nur zwei Argumente haben mich am Ende überzeugt, doch für Emmanuel Macron zu stimmen, nachdem ich mich unter dem Eindruck des ersten Wahlgangs zunächst auf Enthaltung (»vote blanc«) festgelegt hatte: Erstens das Argument von Tom Strohschneider, wonach die Aussage, auf den Sieg Macrons 2017 folge geradezu schicksalhaft der Triumph Marine Le Pens 2022, nur implizit die eigene politische Handlungsfähigkeit der französischen Linken von vornherein für nichtig erklärt. Warum sollte nicht Macrons Ablösung durch eine linke Kraft denkbar sein?
Zweitens überzeugte mich das Gespräch mit Verwandten aus der Nähe von Paris. Ich wollte danach nicht eine problematische Wahl treffen, an deren Folgen ich als »Auslandsfranzose« anders als sie selbst nicht zu leiden hätte, und ich wollte nicht »trittbrettfahren« auf den Stimmen derjenigen, die trotz politischer Qual mit zugehaltener Nase Macron die Stimme geben, weil sie aus nachvollziehbaren Gründen einen Sieg Le Pens mehr fürchten.
Für einen Kandidaten abzustimmen, den man aufgrund seiner Inhalte und seiner bisherigen Bilanz radikal ablehnt, lässt einen mit einem Gefühl von Hilflosigkeit zurück. Gegen diese Hilflosigkeit hilft nur der Versuch, daraus zu lernen, um Handlungsfähigkeit wieder zu gewinnen, damit der Teufelskreis aus Neoliberalismus und Rechtspopulismus in den Ländern des Westens durchbrochen werde.
Gegen die zur Geltung gekommene deutsche Anmaßung des »Meinungsexportweltmeisters« (Patrick Bahners) in beinahe allen Feuilletons, Leitartikeln und sonstigen Medienbeiträgen hilft nur, die Zuspitzungen und Subtexte der deutschen Debatte kritisch zu hinterfragen. Tatsächlich verrät die Diskussion in Deutschland mehr über deutsche Befindlichkeiten und Geltungsansprüche, als dass sie irgendeine Aussagekraft für die Entwicklungen in Frankreich hätte.
2. Linksliberale Schubladen-Politik
Laut dem Aufruf des Grünenpolitikers Sven Giegold und anderer bin ich »antieuropäisch«, weil ich im ersten Wahlgang für Jean-Luc Mélenchon gestimmt habe, dessen Elektorat im Aufruftext ohne mit der Wimper zu zucken mit der Wählerschaft Marine Le Pens in einen Topf geworfen wird. Es wiederholt sich eine fragwürdige linksliberale Exkommunikations- und Schubladen-Politik, die kaum dadurch gerettet wird, dass im Aufruf auch vernünftige Idee aufgeführt werden. Am Ende wird dieser Aufruf ohnehin wirkungslos verpuffen wie alle anderen schönen Bekenntnisse zum »sozialen Europa«, die sich um real- und machtpolitische Fragen herumdrücken.
Wenn irgendeine Gruppe bei dieser Wahl sich von ihrer schwächsten Seite gezeigt hat, dann waren es die deutschen Intellektuellen, deren Verballhornung als »Intellektüllen« durch Volker Pispers für mich jetzt noch ein ganzes Stück plausibler klingt. Was die linksliberalen deutschen Intellektuellen abgeliefert haben, ist wenig mehr als ein Totalbankrott. In ihren Diskursen ordnet man alle politischen Optionen entlang eines Super-Grundwertes »Europa«.
Ob die Reformierbarkeit der EU in eine fortschrittliche Richtung dadurch tatsächlich zunimmt, interessiert eigentlich nicht, weil sich die allermeisten Intellektuellen mit dem »wie« des sozialen Europa ebensowenig aufhalten wie mit der naheliegenden Deutung, dass die Politik von François Hollande und Emmanuel Macron den Erfolg Marine Le Pens erst möglich gemacht hat. Für die Abgehobenheit deutsch-intellektueller Visionen reicht kein Arztbesuch mehr aus; an den Niederungen des politischen Handgemenges machen sich Habermas & Co. nicht die Hände schmutzig.
Mir ist ja Nationalstolz völlig fremd, aber dieses von Habermas über Giegold bis zur FAZ wiederholte Mantra »natürlich braucht Frankreich Reformen« findet der Franzose in mir anmaßend und arrogant - zumal nicht die tatsächlich dringend notwendige Abschaffung der Präsidentialmonarchie gemeint ist, die Mélenchon völlig zu Recht verfochten hat.
3. Sozialdemokratie ohne Solidarität
Einen politischen und moralischen Totalbankrott verbuchte auch die Sozialdemokratie. Sie agierte zum wiederholten Male so, als könne sie über ein Reklamieren der Nicht-Wahlsiege von Rechtspopulisten ihre eigene Niederlage vernachlässigen.
Ich erlebte nach der niederländischen Parlamentswahl, wie sich alle Parteien in einem deutschen Kreistag dazu gratulierten, dass nicht die Freiheitspartei von Geert Wilders (PVV) als Erste durchs Ziel gegangen war. In das Lob stimmten auch die anwesenden SozialdemokratInnen mit ein, obwohl deren Schwesterpartei PvdA bei eben dieser Wahl auf unter 6 Prozent pulverisiert wurde, zweifelsohne auch eine Quittung für die von ihr mitgetragene Politik von Austerität und Sozialabbau. Doch von Selbstkritik konnte keine Rede sein.
Das exakt gleiche Muster stellte sich am Abend des ersten Wahlgangs in Frankreich ein. Noch bevor ein amtliches Ergebnis feststand, beeilte sich der SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidat Martin Schulz, Emmanuel Macron als »seinen« Kandidaten zu adoptieren. Indem man symbolisch der Kampagne des Lieblings des Kapitals »beitrat«, wollte man von der demütigend-vernichtenden Niederlage des tatsächlichen sozialdemokratischen Kandidaten Benoit Hamon ablenken. Mit der transnationalen Solidarität ist es für den ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments also nicht mal innerhalb der eigenen Parteienfamilie weit her.
Nur wenige exponierte SPD-Größen wie die Juso-Bundesvorsitzende Johanna Ueckermann und der Dortmunder Europaabgeordnete Dietmar Köster hatten noch Anstand und Weitsicht genug, auf die Niederlage Hamons hinzuweisen und daraus politische Schlussfolgerungen zu ziehen.
Die antineoliberale Linke sollte nicht den gleichen Fehler machen. Man kann nicht in einem Akt des abenteuerlichen gefühlspolitischen Trittbrettfahrens meinen, die rechtspopulistischen Erfolge ließen sich als Schritt zu antineoliberalen Erfolgen umdeuten. Man muss rechtspopulistische Stimmabgabe als solche ernst nehmen und kann sie nicht mit einem subtilen Paternalismus als vorübergehende Irreführung weg vom »objektiven Klasseninteresse« thematisieren, die sich per saldo irgendwie noch einem per se fortschrittlichen Anti-Establishment-Protest zurechnen lasse.
4. Die Sterilität der linken »weißen Weste«
Alle Varianten linker »Reinheitsgebote« führen in selbstverstärkendes, besserwisserisches Sektierertum und machen blind für die Maßstäbe der »gewöhnlichen« Regierten, die man nicht gut finden, aber kennen und verstehen muss, um sie verändern zu können. Das gilt sowohl für aktivistische Reinheitslosungen wie »Bernie or Bust«, die keine zweitbesten Lösungen akzeptieren. Das gilt aber auch für das arrogante Besserwissertum des linksradikalen »Emanzipations-TÜVs«, der alles in Grund in Boden kritisiert, aber nichts verstanden hat, und der zwar immer in reiner Weste dasteht, aber auch mit leeren Händen. Dem Aufwand, mit dem viele sich für links und fortschrittlich haltende Zeitgenossen Jean-Luc Mélenchon in eine rechte Schublade zu stecken versuchten, weil er nicht in ihre TÜV-Gütekriterien passte, entsprachen auf eigener Seite keinerlei vorweisbaren Mobilisierungs- oder Durchsetzungserfolge.
»Recht haben« vor einem ohnehin gleichgesinnten Milieu-Publikum mag einen Distinktionsgewinn einbringen, fortschrittliche Veränderung wird dadurch aber kaum angestoßen, denn der Kern von Hegemonie ist Überzeugungsfähigkeit, nicht Reinheit. Antonio Gramsci wusste schon, warum er seine Theorie der Partei, dem »neuen Fürsten«, anhand einer Rezeption Niccolo Machiavellis entwickelte.
5. Die Sprache der Herrschaft ist die Sprache der Ohnmacht
In diesem Zusammenhang darf die antineoliberale Linke niemals die Sprache des technokratischen Liberalismus übernehmen, der in der Tat brandstiftende Feuerwehr ist, was die Erfolgsgründe des Rechtspopulismus angeht. Die Linke darf niemals sich bürgerlicher Totschlagargumente bedienen, mit denen Diskussionen beendet statt fair geführt werden – Schlagworte wie »protektionistisch«, »antieuropäisch«, »linksnationalistisch« usw.
Die Kultur der Verrohung und innerlinker Denunziationen beruht zu erheblichen Teilen darauf, dass man sich entlang fremdgesteckter Maßstäbe abarbeitet, die ohnehin nie zur Ermöglichung linker Politik beitragen sollten.
Eine wichtige Zutat des technokratischen Liberalismus ist sein Geltungsanspruch: Er fühlt sich für alles zuständig, kompetent und meint, für jedes erdenkliche Problem eine Lösung zu haben. Wenn es dann in der Realität nicht funktioniert oder die Leute mit Empörung reagieren, dann waren nie seine abstrakten Modellwelten (wie in den Gutachten von Weltbank, IWF, Troika oder Hartz-Kommission) oder seine mitunter absurden juristischen Argumentationsfiguren (wie im Supreme Court, dem EuGH oder dem Bundesverfassungsgericht), sondern die »falsche« Realität daran schuld - weil das Parlament zu stark die Umsetzung verwässert hat oder die Leute angeblich untaugliche Erwartungshaltungen haben.
Die deutsche Linke ist häufiger ein linkes Spiegelbild dieses Paternalismus, als sie es weiß und wahrhaben möchte. Sie leidet an der Anmaßung einer allzuständigen Kompetenz zur Kommentierung, gerade in Deutschland auch an mitunter grandioser Selbstüberschätzung. Denn beim technokratischen Liberalismus entspricht die Zuständigkeitsanmaßung immerhin noch machtpolitischen Realitäten.
6. Verstehen heißt nicht rechtfertigen, Selbstversicherung ist kein Erklären
Die Linke muss raus aus ihrer eigenen Selbstversicherungsspirale. Allzu oft wählt man zur Erklärung unerwünschter Entwicklungen die ohnehin zum eigenen Weltbild passende Erzählung, die, wenn allgemein anerkannt, der eigenen Strömung einen innerparteilichen Geländegewinn verschaffen würde.
Noch häufiger erklärt man schlechte Entwicklungen automatisch damit, dass die Politik oder die gesellschaftliche Entwicklung nicht den eigenen (linken) Vorstellungen gefolgt ist. Diese Einstellung hängt mit dem »Immerschlimmerismus« zusammen, den zuletzt Tom Strohschneider richtigerweise scharf kritisiert hat.
Diese Einstellung ist in einem doppelten Sinne anmaßend: Sie unterstellt unbewusst, dass die Leute als passive Opfer jede politisch-gesellschaftliche Entwicklung über sich ergehen lassen und eigentlich nur auf linke Rettung warten, dass sie nicht über eigene Ressourcen, Kreativität und Solidarität verfügen, um sich auch unter ungünstigen Bedingungen Spielräume freizuschaufeln, zweit- und drittbeste Lösungen zu finden.
Viele dieser Fähigkeiten sind eigentlich originäre Anknüpfungspunkte für Linke, die zu erkennen wir uns selbst verstellen, wenn wir immer die Brille fertiger linker Lösungen aufsetzen, deren Weisheit zu erkennen die Wählerschaft angeblich nur noch nicht reif genug ist – oder die davon durch vermeintliche Manipulation der Medien abgehalten wird.
Auf einen Satz zugespitzt lautet die Lektion: Die Linke braucht Gewissheit über ihre Grundwerte, sie braucht gerade heute politisches Rückgrat, wo viele WählerInnen nicht ganz zu Unrecht grassierenden Opportunismus wahrnehmen, sie braucht Neugier angesichts neuer Probleme und Geduld angesichts nicht vorhandener schneller Lösungen.
7. Wie die Linke sich abschafft
Es gibt zwei Methoden, mit denen sich die politische Linke selbst überflüssig macht. Die erste besteht darin, dass ein großer Teil der sozialdemokratischen Parteien die eigenen politischen Ansprüche immer weiter auf das Maß zurechtstutzt, das die augenblicklichen Kräfteverhältnisse erlauben - die wirtschaftliche Lage, die politischen Stimmungen, der europäische Halbhegemon Deutschland, die neoliberalen EU-Regelwerke.
Bei Teilen auch der Sozialdemokratie geht die Verinnerlichung machtpolitischer Unterlegenheit sogar bis zu einem »Amor Fati«, einer »Liebe zum Schicksal«: Die Entscheidungsträger von französischer PS, spanischer PSOE, niederländischer PvdA und SPD handelten, als würde die Sozialdemokratie in der Tragik ihre eigentliche, wahre historische Größe erkennen, an den wichtigsten fortschrittlichen Bekenntnissen zu scheitern und dabei in parteisoldatischer, staatsmännischer Verantwortlichkeit einer Politik den Weg zu ebnen, die sie offiziell immer abzulehnen vorgibt. Das ist der neuralgische Punkt, der selbst François Hollande und Benoit Hamon am Ende trotz aller sonstigen Differenzen vereint.
Die andere Methode linker Selbstabschaffung ist mit einer französischen Referenz am besten beschrieben: In einigen der hellsichtigsten Passagen seiner »Staatstheorie« demontiert Nicos Poulantzas die ex-linken Renegaten der »Neuen Philosophen« um André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy. So wie sie vormals während ihrer linksradikalen Lebensphase gegen die wesentlich differenzierter argumentierenden Neomarxisten in überschießender Verdammung den französischen Staat als »faschistisch« geißelten, bekämpften sie später den Marxismus als Teil eines totalitären Übels.
Die größten Feinde der Elche waren früher selber welche, die spätere Verdammung der Kritik ist nur die Kehrseite der früheren verdammenden Fundamentalkritik. Wo man früher die moralische Überlegenheit der kommenden, utopischen Gesellschaft im Rücken zu haben glaubte, wusste man sich später im Lager der normativen Kraft des Faktischen.
Ähnlich überschießende Erwartungen feiern heute unter Linken regelmäßige Wiederkehr. Es drängt sich die Befürchtung auf, dass sie die Saat sein könnten, aus der künftige Fluchtbewegungen aus der (linken) Politik, unfruchtbarer politischer Zynismus, opportunistischer Reformismus sowie neokonservative, liberale, rechte oder antideutsche Konvertierungen erwachsen. Das wäre katastrophal, weil die Welt mehr denn je eine politikfähige Linke braucht, die nicht an den Verhältnissen verzweifelt.
Alban Werner, Politikwissenschaftler, geb. 1982 in Aachen, 1999-2004 SPD-Mitglied, seit 2005 in DIE LINKE auf verschiedenen Ebenen aktiv, schreibt u.a. in »Sozialismus« und »Das Argument«.
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