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»Innenpolitik ist ein zutiefst linkes Thema«

SPD-Senator Andreas Geisel über islamistische Bedrohungen, die interkulturelle Öffnung der Polizei und Videoüberwachung

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 9 Min.
Herr Geisel, in diesem Monat jährt sich der islamistische Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz zum ersten Mal. Es gibt Vorwürfe, dass das Land nicht genug tue, um die Weihnachtsmärkte abzusichern.

Bei allen Großveranstaltungen in diesem Jahr - das gilt auch für die Weihnachtsmärkte - sehen Sie, dass die Sicherheit deutlich nach oben gefahren wurde, dass wir viel stärkere Polizeipräsenz haben.

Zur Person
Andreas Geisel (SPD) ist seit knapp einem Jahr Berlins Innensenator. Der 51-Jährige war zuvor zwei Jahre lang Stadtentwicklungssenator in der Großen Koalition. Davor war er mehrere Jahre Bezirksbürgermeister von Lichtenberg. Als Innensenator verantwortet Geisel unter anderem Deutschlands größte Polizeibehörde, die Feuerwehr und den Verfassungsschutz. Über aktuelle Entwicklungen und Kontroversen in der Innenpolitik, zu der es bei SPD, LINKE und Grünen häufig unterschiedliche Auffassungen gibt, sprach mit Andreas Geisel für »neues deutschland« Martin Kröger.

Wir folgen der Maßgabe, so viel Sicherheit wie möglich, so wenige Einschränkungen wie nötig. Ich möchte auch nicht, dass die Sicherheitsvorkehrungen den eigentlichen Charakter der Veranstaltung ersticken.

Das heißt, die ganze Stadt zupollern werden Sie nicht?
Das ist keine realistische Lösung. An strategisch notwendigen Punkten sind Poller sinnvoll. Auch bei einigen Großveranstaltungen werden Überfahrsperren aufgestellt. Nur glauben Sie nicht den Menschen, die hundertprozentige Sicherheit versprechen, die gibt es nicht. So viel Wahrheit muss sein.

Zur Wahrheit gehört auch, dass das selbst ernannte Kalifat in Syrien und dem Irak nur noch wenige Gebiete beherrscht und wohl bald an ein Ende gelangen wird. Hat das Auswirkungen auf die Lage in Berlin?
Weltpolitisch ist das eine gute Nachricht. Für Deutschland bedeutet das aber auch, dass eine Reihe von Gefährdern, die in Syrien und Irak gekämpft haben, theoretisch zurückkommen könnten. Wir rechnen da für Berlin mit Zahlen im zweistelligen Bereich. Wobei das niemand genau sagen kann. Es ist unklar, wer noch lebt. Das macht die Situation nicht leichter.

Der Verfassungsschutz sagt, dass über hundert Islamisten aus Berlin in den sogenannten Islamischen Staat ausgereist seien. Unter ihnen waren auch exponierte Propagandafiguren wie der ehemalige Kreuzberger Rapper Denis Cuspert ...
... Herrn Cuspert würden wir natürlich erkennen und abfangen.

Lebt er denn noch?
Das wissen wir nicht. Der ist mehrfach totgesagt worden. Aber man muss sagen, die handelnden Personen, von denen wir wissen, dass sie ausgereist sind, um sich dort am Krieg zu beteiligen, die sind gut bekannt, und die haben wir entsprechend im Blick.

Im Blick hatten Sie auch vor Kurzem jemanden, der in der Grauzone zwischen islamistischen und kriminellen Milieus unterwegs war. Bei dem Beschuldigten wurden mehrere AK47-Schnellfeuergewehre gefunden. Wie bewerten Sie, dass Kriegswaffen gehortet werden?
Das zeigt die Gefährlichkeit der Menschen, denen wir gegenüberstehen. Solche Festnahmen belegen auch: Wenn sich bei unseren Beobachtungen Gründe zeigen, die ein Eingreifen erfordern, dann handeln wir. Das Schwierige an der Situation sind asymmetrische Kräfte, Einzelkämpfer, die sich radikalisieren und dann Anschläge begehen.

Der Weihnachtsmarkt-Attentäter, der Tunesier Anis Amri, wurde auch lange Zeit observiert, dennoch konnte er den Anschlag ausführen.
Ja, aber daraus haben wir gelernt. Das war eine bittere Erfahrung.

Ein Problem war, dass die Observationskräfte der Polizei limitiert waren. Haben Sie da nachjustiert?
Wir haben die Sicherheitskräfte, den Polizeilichen Staatsschutz, neu aufgestellt und personell verstärkt. Es gibt dort bundesweit und auch europaweit eine wesentlich engere Zusammenarbeit. Aber die Grundproblematik, dass man nicht jeden potenziellen Gefährder rund um die Uhr beobachten kann, bleibt. Wenn Sie das deutschlandweit hochrechnen, bräuchte man für eine vollständige Beobachtung geschätzt 20 000 Observationskräfte. Deswegen bin ich vorsichtig mit Behauptungen wie dem »Versagen des Staates« im Zusammenhang mit dem Attentat. Es gibt Dinge, die wir ausräumen müssen. Aber: Die Menschen, denen man jetzt Fehler vorwirft, sind dieselben, die vorher viele Anschläge verhindert haben und die auch weiterhin Anschläge verhindern.

Warum sind die Behörden immer so zurückhaltend damit, darzulegen, was sie alles verhindert haben?
Das liegt hauptsächlich an polizeitaktischen Fragen. Die Öffentlichkeit bekommt es aber mit, wenn es wieder Verhaftungen gegeben hat. Es geht darum, potenzielle Täter nicht zu warnen.

Der Sonderermittler des Senats Bruno Jost hat bereits Schwachstellen bei den Innenbehörden aufgezeigt.
Der Bericht von Bruno Jost zeigt, dass die Zusammenarbeit zwischen den Bundesländern und den Bundesbehörden optimiert werden muss. Deswegen habe ich vorgeschlagen, dass wir einen Untersuchungsausschuss auf Bundesebene brauchen.

Das dürfte sich durch die ausstehende Regierungsbildung im Bund verzögern. Sind vonseiten Berlins alle Hausaufgaben gemacht?
Der polizeiinterne Abschlussbericht der Sonderkommission Lupe beim LKA wird vermutlich Anfang nächsten Jahres vorliegen. Zudem werden wir sehen, welche Ergebnisse der Amri-Untersuchungsausschuss im Abgeordnetenhaus zutage bringt. Wir haben aber bereits das zu Ende gehende Jahr intensiv genutzt, um Fehler aufzuarbeiten. Im neuen Haushalt, der bald beschlossen werden soll, sind allein für das LKA über 100 Stellen vorgesehen. Wir reden darüber, den Staatsschutz technisch auf Augenhöhe mit potenziellen Tätern zu bringen.

Die benötigten Spezialisten müssen ausgebildet werden. Die Diskussion zur Ausbildungssituation der Berliner Polizei war in den vergangenen Wochen von anonymen Vorwürfen geprägt, die Behörde werde von kriminellen Strukturen unterwandert. Stimmt das?
Die Versuche der organisierten Kriminalität, die Polizei zu unterwandern, sind bekannt - seit Francis Ford Coppolas »Der Pate«. Es wäre naiv anzunehmen, dass das in Berlin nicht auch versucht werden würde. Wir haben auch schon Korruptionsfälle aufgedeckt. Die anonymen Gerüchte im Zusammenhang mit den Polizeischülern, dass kriminelle Großclans Menschen in die Polizeiakademie einschleusen, das hat sich nicht bewahrheitet. In der Realität hat es zwei Bewerbungen von Menschen mit entsprechenden Familiennamen gegeben - beide haben den Aufnahmetest nicht bestanden.

Dennoch gab es viele Vorwürfe. Hat das keine Folgen für die Strukturen an der Polizeiakademie?
Wir nehmen die Kritik ernst. Aber man muss drei Ebenen trennen. Erste Ebene: Wir stellen jetzt 1200 Polizeianwärter pro Jahr ein. Das ist knapp eine Verdreifachung. Die brauchen wir, weil wir mehr Polizei auf der Straße haben wollen. Eine solche Zahl auszubilden bedeutet auch erhöhte Anstrengungen auf Seiten der Lehrer. Wenn wir feststellen, dass es unter den Auszubildenden »schlimme Finger« gibt, dann werden die nicht Polizist. Die zweite Ebene ist: Die Polizeiakademie wurde neu aufgestellt, um diese 1200 Schüler pro Jahr bewältigen zu können. Da werden wir nachsteuern, auch personell. Und die dritte Ebene ist, dass es anonyme Anschuldigungen gegen Polizisten und Polizeischüler mit Migrationshintergrund gegeben hat, die sich bis heute alle als unhaltbar herausgestellt haben. Da muss man sich fragen, wer ein Interesse an solchen anonymen Anschuldigungen hat. Und da sage ich ganz klar: Die Polizei ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft, und es ist gut, dass wir uns kulturell und interkulturell öffnen - da bekenne ich mich ausdrücklich dazu.

Wer hat denn aus Ihrer Sicht ein Interesse daran?
Auch da gibt es zwei Ebenen. Es gibt eine ganze Reihe von Polizisten, die seit 30 Jahren im Dienst sind und die sagen, das ist nicht mehr die Polizei, die sie vor 30 Jahren kennengelernt haben. Da spielen auch Generationenkonflikte eine Rolle. Das hat nichts mit Rechtspopulismus zu tun, sondern damit, dass sich eine solche Behörde, in der 24 000 Menschen arbeiten, auf Veränderungen einstellen muss. Und die zweite Ebene ist, dass eine Reihe von anonymen Anschuldigungen rassistische Konnotationen hatte. Da lese ich Rechtspopulismus heraus, und dagegen wende ich mich. Aber nicht jeder, der anonym kritisiert und sich Sorgen macht, ist deswegen ein Rechtspopulist.

Hat die Diskussion nicht auch gezeigt, dass Berlin dringend einen unabhängigen Polizeibeauftragten braucht, so wie es ihn in Rheinland-Pfalz bereits gibt?
Der Polizeibeauftragte ist überfällig. Es ist ein Versäumnis der letzten Legislatur, einen solchen nicht eingeführt zu haben. Die Koalition wird jetzt die Rechtsgrundlagen schaffen, damit 2018 ein Polizeibeauftragter oder eine Polizeibeauftragte durch das Parlament gewählt wird und die Arbeit aufnimmt.

Dazu braucht es eine neue Behörde mit allem Drum und Dran - dafür werden die Gelder bereitgestellt?
Das ist im Haushaltsentwurf 2018/19 im Haushaltstitel des Parlaments enthalten, weil der Beauftragte oder die Beauftragte dort angesiedelt sein wird und unabhängig arbeiten soll.

In der öffentlichen Sicht wird Innere Sicherheit häufig mit konservativen Parteien in Verbindung gebracht. Wie bewerten Sie das als SPD-Innensenator? Gibt es eine linke Handschrift in der Sicherheitspolitik?
Ich halte Innenpolitik für ein zutiefst linkes Thema. Der Schutz von öffentlichen Räumen, der Schutz von Menschen vor Kriminalität ist links, weil die reichen Menschen, die sich ihre eigene Sicherheit kaufen können, nicht unsere Zielgruppe sind. Klar ist aber auch, dass linke Innenpolitik allein nicht repressiv, sondern auch präventiv verstanden werden muss. Städtebauliche Kriminalprävention beispielsweise ist wichtig, um das Gefühl von Unsicherheit im öffentlichen Raum zu verringern und die Verwahrlosung öffentlicher Flächen und Grünanlagen nicht zuzulassen. Das sind ja genau die Flächen, die im Wesentlichen von Menschen genutzt werden, die sich selber keinen eigenen Garten mit einem Zaun drumherum leisten können.

In der Debatte wechseln die Orte mit Kriminalitätsproblemen schnell: Kleiner Tiergarten, Alexanderplatz, Kottbusser Tor, RAW-Gelände. Wie schaffen Sie es, nicht immer hinterherzujagen, sondern sozusagen vor die Welle zu kommen?
Wir haben ein Auseinanderfallen von objektiver Kriminalitätslage und subjektivem Kriminalitätsempfinden. Wenn wir rein die objektiven Kriminalitätszahlen anschauen, leben wir so sicher, wie lange nicht mehr: Die Zahl der Gewalttaten geht zurück. Bei Mord und Totschlag haben wir ein Zehn-Jahres-Tief. Was angestiegen ist, ist bis vor einem Jahr Taschen- und Fahrraddiebstahl. Das hat etwas damit zu tun, dass viel mehr Menschen Fahrrad fahren und dass wir viele Touristen in der Stadt haben. Aber um solche kriminellen Hotspots wie den Alexanderplatz oder das Kottbusser Tor kümmern wir uns.

Zeigt das Erfolge?
Der Extra-Einsatzgruppe der Polizei am Kottbusser Tor ist es gelungen, die Kriminalität durch Präsenz zurückzudrängen. Wenn wir uns die Kriminalitätsstatistik anschauen, ist die Kriminalität an diesen Orten durchaus rückläufig.

Was sagt die Statistik aus?
Wir haben seit diesem Jahr einen dramatischen Rückgang bei Taschendiebstahl und Fahrraddiebstahl, und auch die Zahlen bei Wohnungseinbrüchen gehen zurück. Die Zahlen liefern wir mit der Kriminalstatistik.

In der Sicherheitsdebatte geht es auch um die Ausweitung der Videoüberwachung. Aus SPD-Kreisen ist immer wieder zu hören, dass man das laufende Volksbegehren am liebsten übernehmen will. Wie ist Ihre Position dazu?
Ich bin nicht bereit, das Volksbegehren eins zu eins zu übernehmen. Aber ich sage, an den kriminalitätsbelasteten Orten der Stadt ist eine Videobeobachtung durchaus sinnvoll, um Beweise zu sichern. Am Kottbusser Tor etwa müssen Sie die Drogenhändler oder Gewalttäter nachts aus dem Verkehr ziehen. Außerdem müssen später vor Gericht die Täter zweifelsfrei identifiziert werden. Um dann Beweise zu haben, kann Videobeobachtung nützlich sein. Ich bin aber gegen die flächendeckende Beobachtung.

Das heißt, Sie wollen den Kompromiss von Rot-Rot-Grün, Kameras nur mobil und temporär an solchen Orten aufzustellen, aufkündigen?
Ich halte den Kompromiss für unzureichend.

Das sehen Ihre Koalitionspartner - die Linkspartei und die Grünen - aber anders.
Ich habe im Januar dieses Jahres das gesagt, was ich jetzt gesagt habe, und nicht alle Koalitionspartner waren einverstanden, deshalb wurde der Kompromiss gefunden. Ich glaube aber, dass wir an den kriminalitätsbelasteten Orten der Stadt mehr tun müssen, als das bisher der Fall ist und was das bisherige Polizeigesetz vorsieht oder zulässt.

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