- Wirtschaft und Umwelt
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Hartz IV bedeutet existenzielle Not
Laut einer Studie des Paritätischen Gesamtverbands werden Erwerbslose abgehängt und ausgegrenzt
Die derzeitigen Hartz-IV-Sätze führen zu Armut - dies ist das Ergebnis einer aktuellen Studie der Forschungsstelle des Paritätischen Gesamtverbands. Die Leistungen der Grundsicherung unterschreiten demnach regelmäßig die Armutsschwelle. Betroffenen fehlt es etwa an Geld für ausgewogene Mahlzeiten. Laut der Studie, die an diesem Dienstag veröffentlicht wird, haben Menschen im Grundsicherungsbezug »deutlich häufiger Defizite bei der Ernährung«.
In der Studie wurde ein Fragebogen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ausgewertet, in dem es unter anderem um Mängel in der Ernährung ging. Ein solcher liegt, so die Autoren, etwa dann vor, wenn nicht mindestens alle zwei Tage eine warme Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder Geflügel gegessen wird. Sechs Prozent der Alleinerziehenden-Haushalte mit Hartz-IV-Bezug essen demnach nicht mindestens jeden zweiten Tag eine solche Mahlzeit, bei den Singles gaben dies sogar 15 Prozent an. Als Grund nannten die meisten Menschen mit Hartz-IV-Bezug finanzielle Abwägungen.
Den Schluss eines Ernährungsmangels legt auch die Auswertung einer Studie aus dem Jahr 2018 nahe. Im Rahmen eines EU-Projektes wurden zur Bedarfsermittlung in verschiedenen Ländern Warenkörbe zusammengestellt. Der Warenkorb für Ernährung in Deutschland basierte auf Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Der Paritätische stellt fest, dass einem Paar mit zwei Kindern im Hartz-IV-Bezug demnach monatlich 123 Euro für Lebensmittel fehlen. Bei einem alleinlebenden Mann liegt die Differenz zwischen dem im Regelsatz vorgesehenen Betrag für Essen und dem Bedarf nach dem DGE-Warenkorb bei 45 Euro.
Aber auch in anderen Bereichen gibt es laut dem Wohlfahrtsverband viel zu wenig Geld für Erwerbslose. In allen für Teilhabe relevanten Aspekten stehen Haushalte, die auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind, »deutlich schlechter da als der Rest der Gesellschaft«. So sei etwa die Gefahr von Vereinsamung und sozialer Isolierung sehr hoch. Beispielsweise könne sich mehr als ein Viertel der Singlehaushalte mit Hartz-IV-Bezug keinen Internetanschluss leisten. Insgesamt hätten sich die Defizite des Arbeitslosengeldes für Ein-Personen-Haushalte seit 2010 stetig erhöht. Bei dieser Gruppe müsse inzwischen bereits von »strenger Armut« gesprochen werden, so der Paritätische. Bei den Familien seien besonders Alleinerziehende »mit Mangel und Entbehrungen konfrontiert«.
Am deutlichsten benachteiligt werden Leistungsberechtigte laut der Studie bei den materiellen Entbehrungen, die der sozialen Teilhabe zugeordnet werden können. Hier zeigten sich im Vergleich zu Personen, die nicht auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind, massive Unterschiede. Laut dem SOEP gehört zur Teilhabe etwa die Möglichkeit, Freunde einmal im Monat zum Essen einzuladen oder monatlich einmal ins Kino, Theater oder zu einer Sportveranstaltung zu gehen. 40 bis 60 Prozent der Haushalte mit Grundsicherungsbezug gaben an, dass sie sich diese Aktivitäten nicht leisten können.
Auch die Möglichkeit, alte Kleidung oder Möbel zu ersetzen, ist laut der Untersuchung für Menschen mit Hartz-IV-Bezug deutlich geringer als für andere. Schließlich hätten diese keine finanzielle Rücklagen. Wenn Sachen kaputtgehen, führe dies regelmäßig zu Problemen. Gesetzlich werde für solche Situationen auf die Möglichkeit eines Darlehens hingewiesen, doch dies helfe Betroffenen nicht, weil es in Form von reduzierten Leistungsansprüchen zurückgezahlt werden müsse und sich das Problem dadurch nur verschiebe.
Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass »unter den Hartz-IV-beziehenden Haushalten materielle Unterversorgung weit verbreitet ist«. Zudem sei die Entscheidungsfreiheit der betroffenen Haushalte verengt. Für sie stelle sich die Frage, ob sie bei der Ernährung oder der Teilhabe verzichten. Aufgabe der Grundsicherung ist jedoch nach Aussage des Bundesverfassungsgerichts von 2014 die Aufrechterhaltung der physischen Existenz und eines Mindestmaßes an sozialer, politischer und kultureller Teilhabe. Dies und ebenso die UN-Entwicklungsziele für 2030, die Armutsbekämpfung und die Reduktion sozialer Ungleichheit bezwecken, würden nicht erreicht werden.
»Hartz IV schützt nicht vor Armut, sondern manifestiert sie«, kommentiert der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, die Studie. »Millionen Menschen sind von der gesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung abgekoppelt, ausgegrenzt und werden immer weiter abgehängt.«
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