Schutz oder Qual

Claus Fussek über die schlechte Situation in der Altenpflege und die Auswirkungen der Coronakrise auf die Pflegebedürftigen

Die Mehrzahl der pfegebedürftigen Menschen werden nicht in Heimen, sondern zu Hause versorgt. Was hat sich dieses Jahr für Sie als pflegender Angehöriger verändert?

Meine Mutter ist demenzkrank und wird von uns als Familie zu Hause gepflegt. Wir haben auch zwei ganz großartige Betreuerinnen aus Rumänien, die sich mit der Pflege abwechseln und die uns eigentlich entlasten. Coronabedingt ist jetzt während des Lockdowns Pause. Allgemein ist die Situation in diesem Jahr viel angespannter, auch unsere Pflegehelfer standen natürlich oft vor dem Problem, was ist, wenn sie nicht nach Rumänien zurückkönnen?

Claus Fussek

Der Sozialpädagoge und Autor beschäftigt sich seit ungefähr 30 Jahren mit den Missständen in der Pflege. Viele Pflegekräfte und pflegende Angehörige wenden sich mit Problemen an ihn. Fussek pflegt zudem seit etwa acht Jahren, gemeinsam mit seiner Familie und mit Betreuern, seine Mutter. Lisa Ecke sprach mit ihm über die Situation der Pflegebedürftigen während der Coronakrise.

Die verschärften Kontaktbeschränkungen haben laut Bund und Ländern vor allem auch das Ziel, die Älteren zu schützen. Wie erleben Sie die öffentliche Debatte?

Nicht nur für mich ist klar geworden, dass sehr viele strukturelle Probleme - Pflegenotstand, fehlendes Personal, das Klima der Angst und des Schweigens in vielen Heimen, schwierige hygienische Verhältnisse - während Corona deutlicher sichtbar sind. Wir brauchen endlich eine ehrliche Bestandsaufnahme und Diskussion. Parallel gibt es ja Probleme in der Fleischindustrie oder bei den Spargelstechern. Auch dort wurden Probleme, die wir alle kannten, noch sichtbarer.

Was meinen Sie mit einem »Klima der Angst«?

Die meisten Pflegekräfte, die sich wegen Missständen in den Heimen an mich wenden, bitten mich um Anonymität. Die Probleme sind bekannt, die Pflege kollabiert, ist am Limit - man kennt die Formulierungen aus den Medien. Aber wenn die Probleme öffentlich thematisiert wurden, dann haben die Pflegekräfte immer Angst, offen darüber zu reden. Dann gibt es noch die Angst der pflegebedürftigen Menschen. Ausgelieferte, wehrlose Menschen haben Angst, sich zu beschweren. Angst, dass es ihnen dann noch schlechter geht, dass sie ›dafür büßen‹ müssen. Das ist bizarr.

Hat sich diese Situation unter Corona noch verschärft?

Unter Corona ist diese Situation noch perverser. Wenn niemand in die Heime rein darf, fällt das Frühwarnsystem weg. Da ist die ehrliche, wertschätzende Kommunikation zwischen Pflegern und Angehörigen umso wichtiger. Ich hatte am Anfang der Pandemie, als Solidarität doch immer wieder betont wurde, die Hoffnung, dass sich etwas ändert. Was ich aber mitbekomme ist, dass die Situation nur unerträglicher wird.

Dabei geht es doch in der Debatte angeblich um das Wohl von älteren Menschen. Wird zu viel über, statt mit Pflegebedürftigen geredet?

Was machen wir jetzt gerade - beschützen wir die pflegebedürftigen Menschen, oder quälen wir sie? Was ist der Wille dieser Menschen? Manche sagen, ich möchte zu Weihnachten das Risiko eingehen, ich möchte noch Kontakt, ich möchte Besuch bekommen, weil es wahrscheinlich mein letztes Weihnachten ist. Und was wird gemacht? Ich bin fassungslos, dass wir kaum kreative Lösungen finden. Wir brauchen in den Einrichtungen Anlaufstellen, andere Berufsgruppen, Sozialpädagogen, psychologisch-seelsorgerisch geschulte Menschen, die wirklich da sind, um mit Angehörigen zu reden.

Also sind Sie für, wie Sie es nennen, kreative Maßnahmen und eher gegen einheitliche Verordnungen?

Jede Situation ist natürlich anders! Aber es ist nur möglich, wenn Angehörige und Pflegekräfte mit Vertrauen und Wertschätzung kommunizieren. Es wird individuelle Lösungen geben müssen. Und wir werden klarmachen müssen, dass pflegebedürftige Menschen noch ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Deswegen sage ich kreativ. Ich will keine Rezepte und keine Vorgaben geben. Es muss eigentlich in allen Pflegeheimen Hygienebeauftragte mit intelligenten Hygienekonzepten geben. Es ist ja nicht so, dass das Rad neu erfunden werden muss.

Ist es realistisch, dass alle Pflegeheimbewohner sich aussuchen können, ob sie jetzt rausgehen und ihre Familien besuchen? Wenn sie wieder ins Heim kommen, müssten sie ja alle getestet werden.

Ist richtig. Also ich sage mal so: Auch vor Corona haben geschätzt nur zehn Prozent der Bewohner Besuche erhalten. Ja also, wir reden hier über einen überschaubaren Personenkreis. Auch vor Corona kamen viele Angehörige nur zum Muttertag und Weihnachten mal kurz vorbei und waren nicht begeistert, noch ins Pflegeheim gehen zu müssen. Was meinen Sie, sind wir doch mal ehrlich, wie viele Familien froh sind, dass sie jetzt einen Grund haben, die Oma nicht nach Hause holen zu müssen.

Sind viele Pflegeheimbewohner in der Coronakrise gar nicht einsamer als sonst?

Schon vor der Coronakrise waren viele ältere Menschen sehr einsam. Obwohl sie zwangsweise in Doppelzimmern untergebracht sind. Sie liegen teils stundenlang in ihren Ausscheidungen, sie werden ruhiggestellt, sie sind isoliert. Dass manche keine Besuche bekommen, will ich gar nicht bewerten. Viele Alte sind auch nicht immer freundlich und sympathisch, also keine gerne gesehenen Gäste. Mir ist aber wichtig, eine ehrliche Diskussion zu führen. Ehrlich heißt auch, im Alter werden alte Rechnungen beglichen, zum Beispiel Erbschaftsstreitereien. Man müsste fragen, wieso gibt es überhaupt so viele schlechte Pflegeheime, Pflegekonzerne, wer hat sich das denn ausgedacht, die Leute dort zu entsorgen? Diese großen Pflegeheime sind natürlich jetzt in Coronazeiten der Gau.

Also denken Sie, dass die Corona-Ausbrüche in den Pflegeheimen auch mit der Größe und der Überlastung des Personals zusammenhängen?

Ja natürlich! Wir müssen das auf den Prüfstand stellen. Es muss auch ein Stück Selbstkritik in der Pflegeszene stattfinden. Es ist doch seit Jahrzehnten bekannt, dass wir einen massiven Pflegenotstand haben. Ein Großteil der Pflegekräfte ist völlig überlastet. Es ist doch völliger Irrsinn, dass Pflegeheime an die Börse gehen und das man mit dem »Produkt Pflege« Rendite erzielen kann. Die großen Skandale gab es doch auch in den Fleischkonzernen, in den großen Schlachthöfen - der Vergleich ist natürlich ein bisschen bizarr -, und nicht in den kleineren Metzgereien. Es ist doch der Wahnsinn, dass es zum Beispiel, auch vor Corona schon, viele Pflegeheime gegeben hat, wo eine Pflegekraft nachts für 60 Menschen zuständig ist. In keinem deutschen Gefängnis wäre das erlaubt.

Aktuell gibt es meist nur Besuchsverbote in Pflegeheimen, wenn es einen Coronaausbruch gab. Während des ersten Lockdowns im Frühjahr gab es hingegen oft generelle Besuchsverbote. Hat man verstanden, dass die psychosoziale Gesundheit eine wichtige Rolle spielt?

In der Zwischenzeit hat man sicher Erfahrungen gesammelt. In vielen Pflegeheimen haben Heimleitungen, Pflegekräfte, Angehörige und Behörden gute Lösungen im Interesse der Bewohner gefunden. Selbstverständlich ist es für alle eine große Herausforderung. Es ist eine Ausnahmesituation, ständige Schuldzuweisungen helfen vor Ort nicht weiter. Die Probleme in den Pflegeheimen wird diese Gesellschaft auch nach Corona noch lange beschäftigen. Vor allem der Umgang mit dem Sterben muss sich ändern.

Haben Sie Hoffnung, dass sich jetzt, durch die coronabedingte öffentliche Aufmerksamkeit für die Pflegeheime, etwas zum Positiven verändert?

Ich bin wenig optimistisch. Es sei denn, es gelingt uns, Pflege tatsächlich zur Schicksalsfrage der Gesellschaft zu machen. Eine gelebte Hospiz-Kultur ist für mich unbedingt notwendig. Wir brauchen dringend eine palliative Schulung aller Menschen, die in einem Heim arbeiten. Es muss einen Perspektivenwechsel in der Pflege geben, eine ethische Diskussion. Diese muss natürlich aus der Perspektive der Bewohner und Bewohnerinnen thematisiert werden. Und auch der Angehörigen und der emphatischen Pflegekräfte. Alte Menschen haben in der Öffentlichkeit offenbar keine Priorität.

Aber es wird doch gerade so viel über alte Menschen gesprochen wie nie. Woran machen Sie das fest?

Das sieht man zum Beispiel an der leidenschaftlichen Diskussion um Urlaubsreisen während Corona, um das Grundrecht auf Glühweinsaufen, wie oft Fußballvereine Coronatests machen und wie wenig in den Heimen getestet wird. Da fällt mir nichts mehr ein.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -