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Entdeckung des eigenen Selbst
Linus Giese erzählt in seinem Buch die eindrückliche Geschichte seiner Transition
Der Dezember 2020 beginnt aufregend für Linus Giese. Ein neuer Buchladen, ein neuer Arbeitsplatz. »Ich habe mein eigenes Buch natürlich fünfmal an die Kasse gelegt und direkt fünfmal verkauft«, schreibt Giese auf Twitter. Einer irritierten Kundin bot er an, das Buch zu signieren. »Sie wusste einfach nicht, wer ich bin, und hat sich wahrscheinlich gefragt, warum dieser seltsame Buchhändler unbedingt etwas in ihr Buch schreiben möchte.« Linus Giese ist trans und schreibt auf Twitter wie auf seinem Blog »Buzzaldrins« über sein Leben und seine Transition. Sein Buch »Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war« ist eine warmherzige und berührende Erzählung über den langen und befreienden Prozess einer Selbstfindung.
Wer es liest, bekommt eine Ahnung davon, was diese neue Arbeit bei dem emanzipatorischen Buchladen für Linus Giese bedeuten mag. Der Buchhändler beschreibt darin nämlich die Erfahrungen, die er in früheren Jobs machen musste: Darunter sind viele schöne, aber auch sehr problematische. So berichtet Giese, wie eine frühere Chefin sein Buch nicht bei einer Lesung in ihrem Laden vorstellen wollte. Stattdessen habe sie ihm vorgeschlagen, erst einmal nichts mehr im Internet zu sagen. Der Grund war, dass Giese bedroht wurde - online wie offline. Menschen, die er nicht kannte, kamen eines Tages an seinen Arbeitsplatz, benutzten seinen Deadname, also seinen abgelegten Namen, und filmten ihn mit dem Handy. Angesichts solcher Ereignisse und der Angst der Kolleg*innen änderte sich das Klima im Laden. Giese legt in seinem Buch offen und eindrücklich dar, was Hass, Hetze und Drohungen mit ihm machten: Er hatte Angst, alleine zu Hause zu sein, ließ sich krankschreiben - und erhielt schließlich die Kündigung.
Trotz schmerzlicher Erfahrungen berichtet Giese mit großem Verständnis für andere Menschen, auch für ihre Vorurteile, ihr Unwissen und ihr verletzendes Verhalten. Viele Unternehmer*innen hätten noch immer nicht viel Erfahrung mit Hass im Netz und wüssten nicht, wie sie damit umgehen sollen. Der Autor schreibt aber auch, wie wichtig Zusammenhalt in diesen Situationen ist. Für Menschen, die auf seinem schwierigen Weg für ihn da waren und ihn unterstützen, findet er warmherzige Worte.
»Ich bin Linus« ist ein Plädoyer für Solidarität und Sensibilität gegenüber anderen. Giese erzählt, dass nach seinem Coming-out Bekannte sagten, sie hätten schon immer gewusst, dass etwas mit ihm nicht stimme. »Aber niemand half mir, niemand sprach mich darauf an«, schreibt er. Sein Buch soll nun auch ein Ansporn an alle sein, genauer hinzusehen und zu reagieren, wenn sich solche Gefühle einschleichen.
Die Lektüre ermutigt aber nicht nur dazu, einfühlsam und ehrlich mit anderen Menschen umzugehen, sondern auch mit sich selbst - und somit auch den eigenen Ahnungen und Verunsicherungen Raum zu geben. Während manche transidente Personen schon als Kleinkinder deutlich kommunizieren, welche Geschlechtsidentität sie haben, brauchte Linus Giese dafür drei Jahrzehnte. Wer glaubt, trans Menschen seien heutzutage mittlerweile gesellschaftlich akzeptierte Normalität, wird eines Besseren belehrt: Der Autor zeigt, wie mühsam es noch immer ist, sich als transident zu outen. Giese zeigt aber auch: Es ist niemals zu spät, sich selbst zu entdecken.
Auf dem Buchdeckel ist ein Pappbecher mit Plastikdeckel abgebildet, auf dem in großen Lettern »Linus« steht. Dieser schnöde Becher hat es in seinem Leben zu einem bedeutsamen Symbol gebracht: Bei einer großen Kaffeekette sagte der Buchhändler bei der Bestellung zum ersten Mal den Namen, den er für sich selbst bestimmt hatte: Linus. Dieser Impuls, fremden Menschen den eigenen, richtigen Namen zu nennen, war der Beginn einer langen, teilweise beschwerlichen Reise. Mit wie viel Leid, Angst, Scham und inneren Kämpfen es verbunden ist, eine falsche Identität zu leben, erzählt Giese sehr plastisch und bewegend. Er schreibt über seine Unsicherheiten, über Einsamkeit, Verlorenheit und sein ambivalentes Verhältnis zum eigenen Körper. Diese Offenheit und Intimität macht eine große Stärke seines Buches aus.
Heute ist es kaum vorstellbar, dass der Dreißigjährige in bunter Blumenjacke und mit kurzem blonden Haar mal diese unsichere Person war, die er beschreibt. Seine Geschichte macht Mut zur Veränderung und zur Suche nach einem passenden Ausdruck für das eigene Selbst. So wird aus dem Thema, das scheinbar nur einen kleinen Personenkreis betrifft, ein universelles. »Ich bin Linus« ist für Menschen, die sich dafür interessieren, wie so eine Transition funktioniert, oder die wissen wollen, wie sie nicht-diskriminierend kommunizieren können. Es ist aber auch ein Buch für alle, die spannende persönliche Geschichten mögen.
Mit »Ich bin Linus« hat Giese ein Zeichen gesetzt, sich nicht vom Hass im Netz und von Bedrohungen im analogen Leben unterkriegen zu lassen. Es ist mutig, sich so angreifbar zu machen. Und es erfordert Kraft, Hohn, Spott und Hetze auszuhalten und weiterhin offen über die eigene Identität und den eigenen Körper zu schreiben. Dabei muss er permanent Dinge erklären: Warum gibt es Männer mit Brüsten? Warum gehen Männer zum Frauenarzt? Linus Giese verrät, wie anstrengend das manchmal ist. Trotzdem macht er weiter. Sein Buch ist ein Manifest für Verständnis, Menschlichkeit und Verletzlichkeit. Und nicht zuletzt auch für Solidarität. »Wer sich aus Angst dazu entscheidet, ein Buch lieber nicht ins Schaufenster zu legen, entscheidet sich nicht nur gegen Solidarität, sondern auch dagegen, den Kampf gegen rechts aufzunehmen«, schreibt Giese.
An seinem neuen Arbeitsplatz steht sein Buch nun im Regal und liegt prominent auf dem Ladentisch. Bücher von Frauen und Bücher von queeren Personen: Allein diese Auswahl werden Menschen als Affront empfinden. Dabei geht es nicht um Provokation, sondern um Sichtbarkeit, um einen selbstverständlichen Platz dieser vielen interessanten, diversen und oftmals leider wenig gehörten Stimmen in Kultur und Gesellschaft.
Linus Giese: »Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war«. Rowohlt, 224 S., br.,15 €.
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