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Behindert arbeiten

Sonderwelten für Menschen mit Einschränkungen oder geschützter Arbeitsraum? Ein Werkstattbericht.

  • Fabian Hillebrand
  • Lesedauer: 6 Min.

Mehr als 300 000 Menschen mit Behinderung arbeiten in Deutschland für sehr wenig Geld in sogenannten Werkstätten. Sie bekommen keinen Mindestlohn, weil sie arbeitsrechtlich als Rehabilitanden gelten. Ist das fair?

Dass es die Werkstätten für Menschen mit Behinderung gibt, ist eine Errungenschaft des Wohlfahrtsstaates. Doch ein größer werdender Kreis von Aktivist*innen und Politiker*innen fordern ihr Auslaufen oder wenigstens eine radikale Reform. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Gründung wird den Werkstätten vorgeworfen, Sonderarbeitswelten zu sein. Ein verschwindend geringer Teil der Beschäftigten - nur ein Prozent jährlich - schafft den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt. Dabei waren die Werkstätten, so liest man es in ihrer Verordnung von 1980, als Übergangseinrichtungen gedacht für Menschen, die aufgrund ihrer geistigen, psychischen oder körperlichen Beeinträchtigungen nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf den allgemeinen Arbeitsmarkt gelangen.

Katrin Langensiepen ist Berichterstatterin zum Thema Menschen mit Behinderung in Brüssel. Die Abgeordnete im Europaparlament veröffentlichte Ende Januar einen Bericht, in dem sie fordert, die Werkstätten langfristig auslaufen zu lassen. Er wurde vom Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten im Europaparlament mit großer Mehrheit angenommen. Langensiepen kritisiert die Werkstätten für Menschen mit Behinderung als weder inklusiv noch vorbereitend auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Die Befürworter der Werkstätten sehen das, was in den Werkstätten an Inklusion geleistet wird, gänzlich anders. Eine kleine Fabrik in Berlin-Mitte: Ein Mitarbeiter der Faktura gGmbH wirft eine Masse Karamell gegen einen Haken an der Wand, um den sich das weiche Material wickelt. Einige Frauen und Männer stehen um einen Tisch und formen aus der Masse bunte Bonbons. Im Raum dahinter sitzen Geschäftsführer Falko Hoppe und Werkstattleiter Ronny Dix an einem Konferenztisch. Sie sind verärgert über die Kritik an den Werkstätten, auch über die im »nd«. Ruhig und sachlich tragen sie ihre Kritik vor: Viele Menschen mit Behinderung seien nicht in der Lage, Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuführen. Deshalb bräuchte es die Werkstätten als Arbeitsräume, welche vor dem Leistungsdruck des allgemeinen Arbeitsmarktes schützen. Hoppe und Dix zahlen alles an ihre Mitarbeitenden aus, was die Faktura gGmbH in Berlin erwirtschaftet, außer einer Rücklage für Notfälle. Viel ist es nicht, was die Menschen hier verdienen. 2018 betrug das durchschnittliche monatliche Arbeitsentgelt eines Werkstattbeschäftigten 214 Euro. In den Werkstätten der Faktura ist es nur ein wenig mehr. Aber das sei eben auch kein Lohn, sondern eine Rehabilitationsleistung, sagt Hoppe, und dass die Menschen ja durchaus über mehr Geld verfügen, da sie auch eine Grundsicherung bekommen. Hoppe rechnet auf einem Flipchart vor, was die Menschen inklusive Grundsicherung und anderen Leistungen im Monat an Geld erhalten. Nicht weniger als beispielsweise Hartz-IV-Empfänger. »Und da müssen wir uns auch als Gesellschaft fragen, wäre das fair, wenn diese Menschen mehr verdienen als Menschen im Niedriglohnsektor«, argumentiert Hoppe.

Die Kritik an den Werkstätten treffe sie auch persönlich, erzählen Dix und Hoppe. Sie haben einiges für ihre Beschäftigten und ihre Werkstätten getan, und wenn Werkstattleiter Dix erzählt, dass er möchte, dass seine Beschäftigten gerne herkommen, gerne hier arbeiten und arbeiten üben, sieht man ihm an, dass er das aus vollem Herzen sagt.

Doch die Unzufriedenheit der Beschäftigen mit Behinderung ist deutlich größer als die der Arbeitnehmer ohne Einschränkungen, das geht aus dem Bundesteilhabebericht hervor. Die Einstellungen der Beschäftigten zu den Werkstätten sind durchaus ambivalent.

Burkhard Brinser aus Leipzig erzählt, viele seiner Kollegen kämen vom »ersten Arbeitsmarkt« in seine Werkstatt. Die meisten seien »froh, in Frieden gelassen zu werden«.

Beatte Klarfeld arbeitet für einen Fahrradhersteller. Sie findet, die Werkstätten sollten nicht abgeschafft werden. Jedoch sollten »alle mehr Lohn zahlen«. Und zwar so viel, dass die Beschäftigten nicht auf die zusätzliche Zahlung einer Grundsicherung angewiesen wären. Dann würde es viel einfacher werden, eine Wohnung zu suchen, denn »viele Vermieter sind uns gegenüber skeptisch«.

Daniel Mauerschmid berichtet, er habe jahrelang auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gearbeitet. »Es hat mich psychisch in den Abgrund getrieben, erzählt er. «Am Ende war ich froh, in eine Werkstatt zu kommen.» Kritik an diesen, gar die Forderung, sie abzuschaffen, macht Mauerschmid Angst: «Wenn mich jemand fragen würde, ob ich zurück auf den ersten Arbeitsmarkt will, meine Antwort wäre nein.»

Renate Schmidt sieht das anders. Sie glaubt, ein Ende der Werkstätten wäre «für die meisten von uns eine Möglichkeit, auf den freien Arbeitsmarkt zu gelangen». Sie wolle «in der Mitte der Gesellschaft» arbeiten, nicht «versteckt abseits des normalen Lebens». «Spülen, putzen, eintüten, Post und Akten sortieren, Besuch empfangen, ich kann mir kein Unternehmen auf der Welt vorstellen, bei dem ein Mensch mit Behinderung nicht arbeiten könnte», ist sich Schmidt sicher.

Wie könnte eine Reform der Werkstätten aussehen? Die Werkstatträte haben dazu einen Vorschlag gemacht. Sie nennen es «Basisgeld». Die betriebsratsähnliche Struktur vertritt die Interessen der Werkstattbeschäftigten, ihr Konzept denkt aber weit über diesen Kreis hinaus. Alle Menschen in Deutschland, die dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, sollen das Basisgeld erhalten, 70 Prozent des gesamtdeutschen Durchschnittsverdienstes soll es betragen. Im Jahr 2019 hätte das einer Summe von 1450 Euro entsprochen. «Ein selbstbestimmtes Leben heißt, Geld in der Tasche zu haben», meint Birgit Meierdiecks, Werkstatträtin aus Bremen und Mitentwicklerin des Basisgeldes. Am Ende hätten die Menschen dabei gar nicht viel mehr Auskommen, als durch die Grundsicherung. Aber: «Es wird ihnen die Demütigung erspart, alles offenzulegen.» Ein Basisgeld hätte bestimmt auch Rückwirkungen auf die Werkstätten, die Menschen könnten freier entscheiden, ob sie dort arbeiten wollen. Letztlich sei das aber auch eine gesellschaftliche Frage, betont Meierdiecks. «Dass viele Leute sich sagen, es ist schon in Ordnung, wenn Menschen mit Behinderung arm durchs Leben gehen, das muss sich ändern.»

In anderen Ländern gibt es andere Systeme, Menschen mit Behinderungen in Arbeit zu bringen. In Großbritannien gab es einst ähnliche Werkstätten wie in Deutschland, dann wurden sie abgeschafft. Mit ambivalentem Ausgang: Während einige der Menschen nun auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gelandet sind, finden andere von ihnen keinen Job.

Katrin Langensiepen meint, dass es auch gar nicht zwangsläufig darum gehen sollte, alle Menschen mit Behinderungen unbedingt in Arbeit zu bringen. «Es geht natürlich um Teilhabe, sagt die erste Abgeordnete im EU-Parlament mit einer sichtbaren Behinderung. »Aber warum sollen die Menschen nicht beispielsweise morgens einen Vortrag besuchen, vormittags im ›nd‹ bei der Redaktionskonferenz zuschauen und Nachmittags einen Ausflug ins Grüne machen«?

Welche Rolle werden die Werkstätten für die Inklusion von Menschen mit Behinderung in Zukunft spielen? Die Debatte kratzt an einigen Grundfragen des Sozialen: Gibt es ein Recht auf Arbeit? In welcher Form können sich Menschen mit Behinderung darauf berufen? Ist Arbeit ein unabdingbarer Aspekt von Teilhabe? Diese Fragen sollten diskutiert werden, auf einer größeren Bühne als in Hinterzimmern in Brüssler Parlamenten oder Berliner Bonbonfabriken.

Lesen Sie auch: Warum verdienen sie so wenig? In der Pandemie sind beinahe unbemerkt Löhne in Behindertenwerkstätten gekürzt worden. Schon vorher ließ sich von den Geld kaum leben.

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