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  • Kultur
  • Konflikt zwischen Polen und Belarus

Im dunklen Versteckwald

Zofia nierodzińska hat Aktivist*innen an der polnischen Grenze zu Belarus begleitet, die Geflüchtete vor Ort unterstützen

  • Zofia nierodzińska
  • Lesedauer: 9 Min.

Was vor ein paar Wochen noch unwahrscheinlich schien, wird heute langsam zur Routine. Gewalt kriecht aus Jedwabne heraus. (Jedwabne ist eine Kleinstadt im Nordosten Polens. Dort kam es 1941 zu einem Massaker an der jüdischen Bevölkerung, das bis heute extrem kontrovers in Polen diskutiert wird. Anm. d.Red.) Draußen gibt es einen Wald, der duftet und Schutz bietet; ein Versteckwald. Wir bringen Wärme in Suppengläsern dorthin. Wir haben auch Thermounterwäsche, Tee, Schlafsäcke und Stiefel. Wir haben Powerbanks und eher selten Sim-Karten. Wir tragen unser Zuhause auf dem Rücken in die Wildnis, für Menschen, die durch Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben wurden.

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Nicht nur das Haus besteht aus Wildnis, auch die Menschen haben Wildnis in sich: eine sommerliche, die Trost spendet, und eine winterliche, die von Dunkelheit und Kälte geprägt ist und tötet. Niemand ist hier zu Hause. Mein Großvater wurde in Baku geboren, die Großmutter stammte aus einer belarusischen Familie, der Urgroßvater kam aus Preußen und änderte seinen Namen. Mein Vater ist in die USA ausgewandert. Ich bin kurz nach der Grundschule weggezogen. Hier, wo ich bin, war schon einmal jemand.

***

Am Sonntagabend erreichen wir den Stützpunkt in S., einen von mehreren in der Region, die die Grupa Granica (Grenzgruppe) betreibt. Die Grenzgruppe ist ein Sammelbegriff für formelle und informelle Organisationen und Einzelpersonen, die an der Grenze tätig sind. S. ist ein großes Holzhaus mit einer langen Geschichte der Selbstorganisation, die sich über drei Generationen erstreckt. Seit September ist es ein rotierender Ort zur Unterstützung von Menschen auf der Flucht geworden. Es sind bereits 36 Personen vor Ort. Sie helfen im Lager, in der Küche, kümmern sich um den Haushalt und gehen als Aktionsgruppen in den Wald. Eher zufällig komme ich dazu, in einem Lagerraum Sachen zu sortieren. Ania zeigt mir, wie alles funktioniert. Sie ist zwei Tage länger hier und weiß schon, wie man sich in der Masse der Dinge, die den ganzen großen Raum des Hauses füllen, bewegt. Warme Winterschlafsäcke, Isomatten, Stiefel in allen Größen und Daunenjacken nehmen den meisten Platz ein. Außerdem liegen Fleecejacken, Pullover, Sweatshirts, Thermokleidung, Hosen und jede Menge Socken auf einem Regal und in Kartons verteilt. Die Kleidung muss dunkel und »unauffällig« sein, alle reflektierenden Elemente sind mit schwarzem Klebeband abgeklebt. Die Gegenstände wurden aus Sammlungen in ganz Polen und vom Roten Kreuz in der nächst-größeren Stadt, Białystok, gespendet. In einem kleineren Raum, der durch eine Wand abgetrennt ist, bereiten wir einen Lagerraum mit Trockennahrung vor, die wir in speziellen Paketen zusammen mit Thermofolie und Socken verpacken.

Jeder Rucksack, der in den Wald getragen wird, muss eine warme Suppe, einen Tee, ein Essenspaket und bei Bedarf Stiefel, Thermokleidung und/oder einen Schlafsack enthalten. Die »Aufträge« zum Packen der Rucksäcke kommen auf einem Zettel zu uns, die wichtigste Nachricht ist die Anzahl der Personen, zum Beispiel 20, darunter vier Frauen und fünf Kinder (2,3,4,6, 10 Jahre alt). Für jüngere Kinder packen wir Milchpulver und Wasser, Bebiko-Desserts, etwas Süßes, kleine Kleidung, für Frauen zusätzlich Damenbinden und Feuchttücher, für Männer eine Schachtel Zigaretten, für alle eine Powerbank. Mindestens drei bis vier Personen werden zu einer Gruppe von mehr als zehn Personen geschickt, jeder mit einem Rucksack. Die Aktivist*innen können offiziell nur denjenigen Menschen helfen, die es bereits geschafft haben, aus dem Notstandsgebiet herauszukommen. Nur Militärpersonal und Einheimische haben dort weiterhin Zutritt.

Tagsüber ist es einfacher, sich im Wald zu bewegen und die Gruppe ausfindig zu machen, es ist aber auch einfacher, die Aufmerksamkeit der Grenzbeamten und der Polizei zu erregen, die alle Autos kontrollieren, die aus dem Gebiet kommen und gehen. Bislang haben die Aktivist*innen keine größeren Schwierigkeiten mit den Behörden gehabt. Als ich in einem Auto fuhr, das bis unter die Decke mit Sachen des Polnischen Roten Kreuzes vollgepackt war, lächelte mich der Polizist, der mich kontrollierte, verständnisvoll an - für touristische Zwecke? - ja, als Tourist. Die Polizei und der Grenzschutz sind Einheimische, sie wecken Vertrauen, die meisten von ihnen wollen keine Probleme machen, anders als die Armee, die von Stützpunkten in ganz Polen hierhergeschickt wurde. Sie sind bereit, jedem Befehl zu folgen. Außerdem kommt es immer häufiger zu Übergriffen rechter Gruppen, die sich als Grenzschützer*innen ausgeben und willkürliche Verhaftungen von Aktivist*innen und Übergriffe auf Geflüchtete vornehmen.

Sobald die Aktionsgruppe Menschen gefunden hat, die im Wald gestrandet sind, gibt sie ihnen einen Tee und eine Suppe und kommt mit ihnen ins Gespräch. Oft kann sich zumindest eine der flüchtenden Personen auf Englisch verständigen. Einige Möglichkeiten werden ihnen vorgestellt: Sie können eine Vollmacht ausfüllen, die sie vor den polnischen Behörden vertritt, sie können offiziell, vorzugsweise in Anwesenheit der Medien, um Asyl in Polen bitten (dann ist es für die Grenzer schwieriger, sie unter Verstoß gegen die Genfer Konvention nach Belarus zurückzuschieben), sich für eine Weile an sicherere Orte begeben oder sich für den inoffiziellen Weg des Wartens im Wald auf einen Fahrer entscheiden. Die letzte Option wird häufig von denjenigen gewählt, deren Ziel Deutschland ist und die in der Lage sind, den Transport zu bezahlen. Es ist insofern riskant, weil die Fahrer das Wohl ihrer »Kunden« nicht immer an die erste Stelle setzen.

Die Gruppe, zu der ich gerufen wurde, bestand aus 27 Personen. Wir haben fünf Rucksäcke gepackt. Es war bereits dunkel. Die Gruppe hatte ihr Lager relativ nah an der Straße. Wir versuchten, auf dem Weg dorthin kein Licht zu benutzen. Nichts war zu sehen, absolute Dunkelheit; über uns ein wunderschöner Sternenhimmel. Unterwegs stießen wir mehrmals auf dornige Büsche, die unsere Hände und Gesichter zerkratzten. Nach einiger Zeit fanden wir »unsere« Leute. Ein junger Mann kam sofort auf uns zu. Er sprach gut englisch. Er forderte uns auf, alles, was wir mitgebracht hatten, den beiden älteren Männern zu geben, auf die er mit seinem Finger zeigte. Das haben wir getan. Er sagte, sie würden die Sachen an andere verteilen. In der Dunkelheit bemerkten wir nicht, dass die Gruppe viel größer war. In dem Durcheinander bin ich auf einen Mann getreten, der am Boden lag. Nachdem ich eine Taschenlampe eingeschaltet hatte, tauchten die Gesichter von Frauen, Kindern und anderen Männern aus der Dunkelheit auf. Ein Vater von zwei kleinen Kindern, darunter ein Baby, bat um heißes Wasser. Wir konnten sie nicht finden. Wir stellten fest, dass wir nur Tee bekommen hatten. Auf der »Bestellung«, die wir vom Büro erhalten haben, standen keine Angaben über das Neugeborene, kein Kind im Allgemeinen. Es waren mehrere in der Gruppe, darunter die zehnjährige Fatma, die als Übersetzerin zwischen uns und ihren Eltern fungierte. Ihr Vater bekam eine Panikattacke, als ein polnischer Grenzschutzhubschrauber über ihre Köpfe hinwegflog. Dies löste bei ihm traumatische Erinnerungen aus. Jetzt zitterte und weinte er. Er sagte, dass er nicht mehr leben wolle, dass er wolle, dass alles zu Ende sei. Seine Frau, Fatma und ihr junger Bruder saßen hilflos um ihn herum. Z. forderte die Vertreter aller Familien auf, zu ihr zu kommen. Sie war von vier jungen Männern umgeben. Sie sprachen alle gut englisch. Z. machte sie mit den Möglichkeiten vertraut, die sie hatten. Es schien, dass zumindest Fatmas Familie sich entschließen würde, auf uns zuzugehen. Am Ende setzte sich jedoch das Interesse der Gruppe durch, die mehrheitlich nach Deutschland gehen wollte. Sie warteten auf ihre Transporter.

Wir begannen zu vermuten, dass die beiden älteren Männer, die von uns Lebensmittel und Schlafsäcke erhielten, keine Geflüchteten waren, sondern Menschen, die ihre schwierige Lage ausnutzten. Vielleicht war das, was wie Respekt aussah, in Wirklichkeit Angst ... In der Zwischenzeit bestellten wir Milch und Wasser für das Baby und Dinge für die Frauen in der Basis, die wir nicht einpacken konnten. Wir beschlossen, dass zwei von uns sie einsammeln würden und der Rest bei der Gruppe bleiben würde. Ich war eine derjenigen, die die Sachen vom Fahrer abholen sollte. Auf dem Weg dorthin ist mein Handy ausgegangen. Meine Freundin hatte Probleme mit ihrem. Wir haben uns verlaufen. Wir sind eine Strecke gelaufen, für die wir eigentlich zehn Minuten hätten brauchen sollen, aber 40 benötigten, was die Gruppe sehr nervös machte. Schließlich erreichten die Sachen die Bedürftigen. Nachdem sie die warme Suppe gegessen hatten, schliefen alle beruhigt ein. Nach zwei Stunden kehrten wir nach S. zurück.

***

Wenn man nachts durch den Wald stapft, kann man seine ausgestreckte Hand nicht sehen. Das Gebüsch verletzt die Hände, zerreißt die Kleidung. Als ich gestern im Wald umherirrte, hatte ich den Eindruck, dass überall Menschen ohne Zuhause lagen. Du kannst dich im Wald verirren, wenn dein Handy den Dienst versagt und deine Freundin keine Position schicken kann, dann geht es dir genauso wie denen, denen du Suppe gebracht hast, deren Kind geweint hat, weil es kein warmes Wasser bekommen hat, das gar nichts gegessen hat. Du musst im Straßengraben warten, bis dich jemand abholt, und hoffen, dass es nicht die Grenzpolizei ist.

Ich weiß nicht, was mit »unserer« Gruppe passiert ist, ich hoffe, dass sie sicher nach Deutschland gelangt sind. Am nächsten Tag sank die Temperatur nachts unter Null. Als ich im Bett lag, dachte ich daran, dass wir beim nächsten Mal, wenn wir nach Menschen suchen, ihre Leichen finden könnten.

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PS. Seit heute Morgen werden die Medien von der Nachricht beherrscht, dass Tausende von Geflüchteten, vor allem Kurden, gewaltsam versucht haben, die polnische Grenze zu überqueren, um auf diese Weise auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Empathie soll durch Bilder von Aggression überdeckt werden, die Angst hervorrufen. Die Grenzgruppe fordert, dass ein humanitärer Korridor für die Bedürftigsten geöffnet wird.

Zofia nierodzińska, wie sie sich selbst nennt, ist arbeitet im Kulturbereich, ist Autorin, Redakteurin beim Magazyn »RTV« für Kunst und Aktivismus sowie stellvertretende Direktorin der Städtischen Galerie Arsenal in Poznań. Sie studierte an der Universität der Künste (UdK) in Berlin (MA an der Fakultät Kunst im Kontext) und an der Universität der Künste in Poznań (PhD). Sie unterstützt die Aktivitäten der Grupa Granica und war selbst zwischen 31. Oktober und 5. November an der polnisch-belarusischen Grenze.

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