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- Armutsbericht des Paritätischen
Armutsrekord im ersten Coronajahr
Über 16 Prozent der Menschen in Deutschland lebten laut Paritätischem Wohlfahrtsverband in Armut
Im Jahr 2020 hat die Armut in Deutschland einen neuen Höchstwert erreicht: Über 16 Prozent der Menschen lebten in Armut. 13,4 Millionen Menschen hatten weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung und gelten daher als arm. Das geht aus dem am Donnerstag vorgestellten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands hervor. Der Bericht beruht unter anderem auf Daten des Mikrozensus, den das Statistische Bundesamt erhebt. Ein Vergleich mit vorherigen Armutsberichten ist aus methodischen Gründen jedoch nur eingeschränkt möglich. Trotzdem ist ein steter Anstieg der Armut offensichtlich: So lag die Armutsquote im Jahr 2006 noch bei 14 Prozent.
»Die allgemeinen Folgen der Pandemie trafen Arme ungleich härter«, kommentierte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen den Bericht. Insbesondere das Kurzarbeitergeld, aber auch das Arbeitslosengeld I hätten laut Armutsbericht durchaus als Instrumente der Armutsbekämpfung gewirkt. Trotzdem seien vor allem Erwerbstätige und unter ihnen Selbstständige die Verlierer der Coronakrise.
»Für die Ärmsten und ihre besonderen Nöte hatte die große Koalition 2020 allerdings im wahrsten Sinne des Wortes einfach nichts und in 2021 bestenfalls den berühmten Tropfen auf den heißen Stein übrig«, so Schneider. Es dauerte beispielsweise bis 2021, bis Menschen in Hartz IV und in der Altersgrundsicherung einmalig einen Gutschein für zehn FFP2-Masken erhalten hatten, sagte Schneider bei der Vorstellung des Berichts. Und selbst diese viel zu späte Maßnahme war von Misstrauen gegenüber Grundsicherungsberechtigten gekennzeichnet. Betroffene erhielten die Masken bei Vorlage ihrer Berechtigung in den Apotheken. Vergütet wurden diese mit 39 Euro. Wäre diese Summe als Mehrbedarf mit der Grundsicherung überwiesen worden, wäre die Unterstützung laut Armutsbericht nicht nur deutlich schneller bei den Betroffenen angekommen, sie hätten für das gleiche Geld auch eine mehrfache Zahl von Masken im Discounter erwerben können.
Nach Beginn der Corona-Pandemie dauerte es ein Jahr lang, bis Beziehende von Hartz IV und Altersgrundsicherung »wenigstens einen einmaligen kleinlichen Betrag von 150 Euro ausgezahlt bekamen«, wird in dem Bericht ein weiteres Beispiel für die Ignoranz der Bundesregierung gegenüber den Ärmsten benannt. Erschwerend kam hinzu, dass viele Unterstützungsangebote erst einmal wegfielen, etwa Sozialkaufhäuser, Tafeln oder Schulessen. Obendrauf kamen noch die größeren psychischen Belastungen in beengten Wohnverhältnissen oder auch durch unzureichende Ausstattung für das Homeschooling.
Wie in den Jahren zuvor sind manche Gruppen überdurchschnittlich häufig von Armut betroffen. So lebten 2020 gut 40 Prozent aller Alleinerziehenden in Armut. Auch kinderreiche Familien, Erwerbslose, Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen sowie Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit und Rentner waren überdurchschnittlich oft arm. Jedoch sind auch alle anderen Gruppen betroffen: 2020 hatte die Hälfte aller Armen ein mittleres Qualifikationsniveau, knapp 14 Prozent sogar ein hohes. Mehr als ein Drittel der erwachsenen Armen in Deutschland ist aktuell erwerbstätig.
Besonders auffällig ist die unterschiedliche Armutsverteilung in den Bundesländern. Während die beiden süddeutschen Länder Bayern und Baden-Württemberg auf eine gemeinsame Armutsquote von 12,2 Prozent kommen, weisen die übrigen Bundesländer eine gemeinsame Armutsquote von 17,7 Prozent aus. Der Abstand zwischen Bayern (11,6 Prozent) und dem schlecht platziertesten Bundesland Bremen (28,4 Prozent) beträgt fast 17 Prozentpunkte. Der »Wohlstandsgraben« zwischen einzelnen Bundesländern habe laut Schneider »extrem zugenommen«. Während in einem Bundesland lediglich jeder zehnte Mensch arm ist, ist in einem anderen Bundesland jeder vierte betroffen. »Deutschland ist nicht nur sozial, sondern auch regional ein tief gespaltenes Land, und die Gräben werden immer tiefer«, stellte Schneider fest.
»Es geht ja wieder auf Weihnachten zu. Das ist eine Zeit, wo ich immer besonders niedergeschlagen bin – obwohl ich Weihnachten liebe – weil ich da die absolute Ausgrenzung sehe. In diesen Regelsätzen gibt es keinen Posten für Weihnachten und Geburtstage«, zitiert der Paritätische eine Armutsbetroffene. Ein anderer berichtet: »Ich glaube schon, dass in der Öffentlichkeit ein Gefühl vorhanden ist. ›Hartz IV, das ist wenig Geld‹. Aber kaum einer sieht, dass es nicht nur wenig, sondern eben in wirklich keinem der Lebensbereiche ausreichend ist.«
»Tief enttäuscht« ist der Paritätische von der Tatsache, dass die »heiß diskutierte Frage des Regelsatzes in Hartz IV und in der Altersgrundsicherung im Koalitionsvertrag überhaupt keine Rolle mehr spielt«. Denn: »Der Regelsatz ist und bleibt die zentrale Stellgröße im Kampf gegen Armut und für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft.«
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