EU-Verfahrensrechte für Arme gefordert

NGOs aus fünf Ländern starten Kampagne zur Abschaffung schwerer Strafen für kleine Vergehen

Viele Betroffene werden wegen kleinerer Diebstähle, Fahren ohne Fahrschein, Drogenvergehen oder Verstößen gegen Ausländerrecht bestraft.
Viele Betroffene werden wegen kleinerer Diebstähle, Fahren ohne Fahrschein, Drogenvergehen oder Verstößen gegen Ausländerrecht bestraft.

Acht Menschenrechtsorganisationen aus Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien und Spanien haben am Donnerstag eine Kampagne gegen ungerechte Strafen für geringfügige Vergehen gestartet. Unter dem Motto »Kleine Vergehen, schwere Strafen« will das Bündnis auf die besondere Kriminalisierung Armutsbetroffener aufmerksam machen. In einem entsprechenden Aufruf fordern die Unterzeichner die Garantie von europäischen Verfahrensrechten auch für Bagatelldelikte. Regierungen müssten die Unschuldsvermutung, Rechtsbeistand, Zugang zu Anwälten, Dolmetscher und Übersetzungsdienste sowie besondere Schutzmaßnahmen für Minderjährige garantieren.

Neben Menschen in Armut zielt die Bestrafung geringfügiger Vergehen zudem unverhältnismäßig auf marginalisierte Gruppen ab, kritisieren die Organisationen, die vorwiegend im Bereich der Unterstützung von Flüchtlingen, Häftlingen und Opfern von Gewalt der Exekutive tätig sind. Dies gehe mit schwerwiegenden und keinesfalls geringfügigen Folgen für das Leben der Betroffenen einher. Neben unüberwindlichen Geldstrafen und Haft müssten viele auch negative Konsequenzen für den Aufenthaltsstatus fürchten.

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Aus Deutschland beteiligt sich das Justice Collective, das in Berlin sehr eng getaktete Prozesse vor Amtsgerichten beobachtet, an dem Zusammenschluss. »Schnellverfahren ermöglichen eine willkürliche Bestrafung ohne angemessene Berücksichtigung von Fakten oder Ungerechtigkeiten«, sagt Mitali Nagrecha, Mitbegründerin der Kampagne »Kleine Vergehen, schwere Strafen«.

Im Jahr 2021 wurden in Deutschland laut dem Justice Collective über eine halbe Million geringfügige Straftaten geahndet. Häufige Vergehen, für die Personen bestraft werden, seien kleinere Diebstähle, Fahren ohne Fahrschein im öffentlichen Verkehr, Drogenvergehen und Verstöße gegen den Migrationsstatus.

In etwa 90 Prozent der Fälle der verhängten Geldstrafen wurden die Betroffenen von der Staatsanwaltschaft mit einem Strafbefehl auf dem Postweg verurteilt, ohne dass sie einen Richter zu Gesicht bekamen. Viele von ihnen hatten keine Anwälte und konnten unter Umständen noch nicht einmal die Sprache verstehen, in der der Strafbefehl verschickt wurde.

»Es ist deshalb wenig überraschend, dass im selben Jahr schätzungsweise 50 000 Personen inhaftiert wurden, da sie die Strafe, die ihnen somit auferlegt wurde, nicht tilgen konnten«, schreiben die Organisatoren der Kampagne zur Situation in Deutschland.

In Ungarn sollen im Jahr 2023 mehr als 136 000 Menschen inhaftiert worden sein, nachdem sie ihre Geldstrafe nicht zahlen konnten. In Spanien seien im gleichen Jahr 40 Prozent der Betroffenen wegen wirtschaftlicher Vergehen wie Diebstahl und weitere 16 Prozent wegen hauptsächlich geringfügigem Drogenhandel eingesperrt worden, ohne dass daran Anwälte oder Richter beteiligt waren. In Italien führen geringfügige Vergehen dazu, dass etwa Migranten ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht erneuern können und sogar noch fünfstellige Summen für den deshalb irregulären Aufenthalt bezahlen müssten.

Dass das Verfahrensrecht in einzelnen EU-Staaten geringfügige Vergehen teilweise ausnimmt, verletzt nach Ansicht der acht Organisationen »routinemäßig« die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Dazu zählen das Recht auf wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung und das Recht auf Verteidigung. Häufig verletzt werden auch die Grundsätze der Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit, das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz, das Verbot der Diskriminierung und der Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht. Die Kampagne »Kleine Vergehen, schwere Strafen« ruft alle Kandidaten bei den Europäischen Parlamentswahlen dazu auf, zu dem Thema Stellung zu beziehen.

Neben den Verfahren vor Gerichten kritisieren die Organisationen weitverbreitete und diskriminierende polizeiliche Maßnahmen und Bestrafungen, darunter rassistische Kontrollen und die Verhängung von Bußgeldern. In Frankreich und Ungarn führten angebliche Verstöße gegen die öffentliche Ordnung immer öfter zu Geldstrafen, die für eine wachsende Liste geringfügiger Straftaten auch »vor Ort« verhängt werden können und zu einem Strafregistereintrag führen. Auch damit wird der Verfahrensschutz umgangen.

Dass Regierungen die polizeilichen Befugnisse ohne Rechenschaftspflicht ausgeweitet haben, führe dazu, dass Menschen aufgrund von Armut, Migrationsstatus, sozialer Stellung oder anderer Faktoren unverhältnismäßig oft kontrolliert werden, schreibt die Kampagne. Oft würden dieselben Bevölkerungsgruppen auch als »unerwünscht« in öffentlichen Räumen wahrgenommen und mithilfe von Verwarnungsgeldern aus diesen entfernt. Regierungen schieben die Schuld für soziale und wirtschaftliche Probleme damit denen zu, die ohnehin über wenig Mittel verfügen, so die Kritik.

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