Frankfurt in Aufruhr: »Die Engländer sind da«

Rund um das Spiel gegen Dänemark herrscht in der Mainmetropole Ausnahmezustand

Die Stimmung erreichte im Stadion schnell einen ungeahnten Tiefpunkt, weil das englische Team äußerst blass blieb. In der Stadt feierten die Engländer wie immer.
Die Stimmung erreichte im Stadion schnell einen ungeahnten Tiefpunkt, weil das englische Team äußerst blass blieb. In der Stadt feierten die Engländer wie immer.

Fährt man mit dem Zug durch Frankfurt am Main, wird man per Durchsage freundlich aufgefordert, beim Zwischenhalt auf sein Hab und Gut im Abteil zu achten. Steigt man dort aus, kommt vor dem Wunsch eines angenehmen Aufenthaltes ein gut gemeinter Ratschlag: »Wir sind hier in Frankfurt, bitte achten Sie auf Ihre Wertsachen!« Die Verunsicherung nimmt beim Verlassen des Bahnhofs nicht ab, wildes Geschrei dringt vom Vorplatz in die Halle.

Lebhaft gestikulieren 20 Männer am Taxistand und rennen zwischen den Autos und möglichen Fahrgästen herum. Schnelle Worte fliegen laut hin und her. Manch Ankommenden ist das alles etwas ungeheuer, sie drehen wieder um. Was wie ein Streit klingt, und aus der Ferne auch nicht anders wirkt, nimmt Ünal gelassen. »Nein«, sagt er, »normal ist das nicht.« Die Erläuterung muss noch warten: Während er mein Gepäck in den Kofferraum seines Taxis stellt, flachst er noch mal mit einem Kollegen und zwei, drei Dirigenten der beigefarbenen Beförderungsflotte gleichermaßen. Dann geht’s los, und Ünal erklärt den hektischen Hochbetrieb: »Die Engländer sind da.«

Hubschrauber und hoher Besuch

Seit Mittwoch herrscht in der Mainmetropole Ausnahmezustand. Die britische Boulevardzeitung »The Sun« schreibt von 350 000 Engländern, die gerade in Deutschland Fußball-Urlaub machen, mindestens 100 000 sollen in Frankfurt sein. Nachdem die erste Nacht ohne größere Zwischenfälle verlaufen sein soll, kreisen ab Donnerstagmittag Hubschrauber über der Stadt. Da hatten sich schon Tausende englische Fans am Römer versammelt, um sich auf das zweite Gruppenspiel gegen Dänemark einzustimmen. Nach den Auseinandersetzungen mit serbischen Anhängern rund um die erste Partie der Gruppe C in Gelsenkirchen wurden die Sicherheitsmaßnahmen noch einmal deutlich verschärft. Und hoher Besuch musste ja auch noch entsprechend betreut werden: Prinz William verlieh dem Auftritt des englischen Teams in der Frankfurter Arena zumindest etwas Glanz. Der dänische König Frederik X. konnte beim 1:1 mit der besseren Mannschaft jubeln.

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Platz ist in Frankfurt für Fußballfans bei dieser Europameisterschaft eigentlich genug. Die Fanmeile am Mainufer ist mit 1,4 Kilometern die längste in Deutschland. Dass dort 30 000 Menschen die Spiele sehen können, ließ sich die Stadt mehr als 14 Millionen Euro kosten. Wesentlich beliebter bei den Engländern sind aber die zahllosen Möglichkeiten zu trinken und zu feiern in der Innenstadt. Ein wohlklingendes »Fucking!« ist an jeder Ecke zu hören.

Torfreude und Taxifahren

Ünal freut sich über die vielen Gäste von der Insel. »Die Engländer fahren alles mit dem Taxi«, erzählt er während der Fahrt und lacht. Schlechte Erfahrungen habe er bislang noch nicht gemacht, seine Kollegen auch nicht, meint er. Frankfurts Taxifahrer sind in bester EM-Stimmung. Mit dem Motto »Torfreude« richtet die Mainmetropole insgesamt fünf Spiele aus, drei kommen noch: das letzte Gruppenspiel der DFB-Elf an diesem Sonntag gegen die Schweiz, drei Tage später die Partie Slowakei gegen Rumänien in der Gruppe E und am 1. Juli ein Achtelfinale. Vom ersten Spiel in seiner Heimatstadt am vergangenen Montag war Ünal enttäuscht. »Die sind alle zu Fuß zum Stadion gelaufen«, berichtet er von den Slowaken. Nur ein paar Belgier seien in sein Taxi gestiegen. Dabei hätten sich auch die Taxifahrer ordentlich auf das Turnier vorbereitet. »Aber diese Engländer«, sagt Ünal und lacht wieder: »Damit haben wir wirklich nicht gerechnet.«

Englische Fans in Bestform erlebt man auf dem Weg zum Stadion. Viel Zeit ist nicht mehr bis zum Anpfiff – und die S-Bahn bleibt eine Station vor dem Ziel stehen. Die Durchsage »Polizeieinsatz« verstehen sie. Die meistgehörte Antwort: wieder ein wohlklingendes »Fucking«. Den Rest verstehen sie nicht. Dass gerade Menschen auf den Gleisen die Weiterfahrt unmöglich machen, interessiert sie auch nicht wirklich. Sie singen. Und trinken. Kurze Zeit später geht es weiter. Die Stimmung steigt. Der Höhepunkt ist eine wunderbare Version von Bruce Springsteens »Dancing in the Dark« im schallenden Bahnhofstunnel.

Ohne Show keine Stimmung

Beeindruckend ist auch noch die englische Nationalhymne zum Anpfiff der zweiten Halbzeit, ohne musikalische Untermalung allein aus den Kehlen der schätzungsweise 15 000 Fans kommend. Weil die große Show von Jude Bellingham, Phil Foden, Harry Kane und Kollegen auf dem Rasen ausfällt, erreicht die Stimmung ihren Tiefpunkt. Das »Fucking« klingt jetzt arg verstimmt. Der Abpfiff produziert ein Bild mit Seltenheitswert, wie mir ein Kollege versichert: Die englischen Fans verlassen in Scharen sofort das Stadion.

Die rund 10 000 Dänen hingegen wollen gar nicht gehen. Sie genießen wie Nationaltrainer Kasper Hjulmand wohl das »Gefühl, gegen England gewinnen zu können«. Der 114 km/h schnelle Schuss von Morten Hjulmand, in der 34. Minute aus 28 Metern direkt an den Innenpfosten gesetzt, bescherte Dänemark immerhin den zweiten Punkt in der Gruppe C. Und die Möglichkeit, im letzten Vorrundenspiel am kommenden Dienstag gegen Serbien in München das Weiterkommen zu feiern.

»Höllenloch« und »Zombiezone«

Daran glauben auch die Engländer mit schon vier erspielten Punkten noch. Trainer Gareth Southgate sprach darüber aber mit einer Miene, als sei er gerade ausgeschieden. Verdient hätte es sein Team, das mit einem Marktwert von mehr als 1,7 Milliarden Euro mit Abstand wertvollste des Turniers, nach diesem Auftritt allemal. Ein Abstaubertor von Stürmerstar Kane zur Führung war noch das Beste daran. Der Rest sorgte für Pfiffe der Fans aus beiden Lagern.

Über Southgate verlieren die englischen Fans nicht die feinsten Worte. »Was jetzt?«, fragt einer in die Runde seiner zehnköpfigen Gruppe. Die prompte Antwort: »So schnell wie möglich weg hier und zurück in die Stadt.« Diesmal meist mit den Öffentlichen. Die englische Vorliebe für Taxifahrten in Frankfurt lässt sich vielleicht teilweise mit Geschichten von der Insel erklären. Als »Höllenloch« wurde die Mainmetropole dort im Vorfeld von der Presse beschrieben. »In wenigen Straßen der Innenstadt tummeln sich inzwischen schätzungsweise 5000 Drogensüchtige«, hieß es. Das Bahnhofsviertel, aus dem jährlich mehr als 10 000 Straftaten zur Anzeige kommen, sei eine »Zombiezone«.

Englische Eroberung

Ünal will sich nicht aufregen. Zumindest nicht über irgendwelche Schlagzeilen. Über sein Gewerbe macht er sich jedoch Sorgen. »Seit fünf Jahren braucht man keinen Schein mehr, um hier Taxi zu fahren«, sagt er. Meine Fahrt werde rund 15 Euro kosten, schätzt er. Stimmt, punktgenau. Bei neuen Kollegen, von denen die meisten mittlerweile »nur noch mit Navi fahren«, hätte ich vielleicht das Doppelte zahlen müssen. »Die kennen sich in der Stadt nicht aus.« Ünal gibt mir mein Gepäck, wünscht mir alles Gute. Und weg ist er, Richtung Bahnhof.

Das gute Geschäft mit den Engländern scheint vorbei. War die Nacht in Frankfurt noch blaulichtlaut und alkoholschwer, scheint der morgendliche Regen am Freitag die Gäste von der Insel gleich mit weggespült zu haben – höchstwahrscheinlich Richtung Köln. Dort lässt es sich bekanntlich auch gut feiern. Die große Eroberung der Domstadt ist für Dienstag geplant, rund um das englische Spiel gegen Slowenien.

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