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  • Schleuser-Prozesse in Pirna

Doppelmoral bei Strafverfolgung von Migration

Sogenannte Schleuser-Prozesse in Pirna belegen eine verfehlte Migrationspolitik

  • Hannah Neidhardt, Imke Behrends, Julia Winkler
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Bundesinnenministerin begründet Maßnahmen gegen »Schleuser« auch mit dem Schutz Flüchtender.
Die Bundesinnenministerin begründet Maßnahmen gegen »Schleuser« auch mit dem Schutz Flüchtender.

EU-weit dämonisieren Politik, Behörden und Medien sogenannte Schleuser als skrupellose, international operierende Kriminelle, die für ihren Profit auch Tote in Kauf nähmen. In Deutschland haben Landespolizeibehörden, die Bundespolizei sowie das Bundeskriminalamt eigens eingerichtete Ermittlungsgruppen, um die dem Bereich »Organisierte Kriminalität« zugeordneten Taten zu verfolgen. Die Maßnahmen gegen »Schleuser« werden regelmäßig auch mit dem Schutz Flüchtender begründet. »Ich will dieses grausame Geschäft mit der Not von Menschen stoppen«, erklärte die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) im Herbst.

Erkenntnisse aus der Forschung zeichnen ein differenzierteres Bild: Bei vielen als »Schleusergruppen« verfolgten Zusammenschlüssen handelt es sich demnach um lose und zufällig gebildete Strukturen, die etwa aus entfernten Bekannten oder oftmals Flüchtenden selbst bestehen und auf Vertrauen und Weiterempfehlung basieren. Oft werden Menschen durch finanzielle Not oder Zwang zu »Schleusern«. So verdienen sich Migrierende, die Erfahrung an einer bestimmten Grenze gesammelt haben, etwas dazu, indem sie mit anderen ihr Wissen teilen, um damit dann ihre eigene Weiterreise zu finanzieren.

Regelmäßig handelt es sich bei Personen, die Fahrer*innendienste übernehmen, um Menschen aus der lokalen Bevölkerung, die in Armut leben und deshalb diesen sehr risiko- und stressvollen Job annehmen. In Mittelmeerländern wie Griechenland und Italien werden Geflüchtete routinemäßig als »Schleuser« verhaftet, nur weil sie das Boot gesteuert oder Wasser an Bord verteilt haben.

In Deutschland werden derartige Fälle unter anderem fast täglich vor dem Amtsgericht in Pirna verhandelt. Die Betroffenen werden dazu mit einem Gefangenentransporter aus der Untersuchungshaft in Dresden oder anderen Anstalten in der Umgebung gebracht und in Handschellen ins Gebäude geführt.

In der zweiten Aprilwoche begann ein solcher Prozess wegen »Einschleusens von Ausländern« in Pirna gegen zwei Männer. An Händen und Füßen gefesselt werden sie in den Gerichtssaal geführt. Einer der beiden, ein 40 Jahre alter polnischer Staatsbürger, soll in zwei Fällen insgesamt 17 syrische Staatsangehörige ohne gültige Aufenthaltspapiere gegen Bezahlung mit dem Auto aus der Slowakei über Tschechien nach Deutschland gefahren haben. Vier Personen saßen auf der Rückbank, zwei im Kofferraum, deshalb wird ihm erschwerend die lebensgefährdende Behandlung vorgeworfen.

Der Angeklagte äußert sich: Er sei arm und habe zwei Kinder, habe Geld für die medizinische Versorgung des autistischen Sohnes benötigt, das polnische Gesundheitssystem sei dafür nicht ausreichend. Die beförderten Menschen habe er gut behandelt, ihnen Wasser und Snacks gekauft. Darauf, wie viele im Auto saßen, habe er keinen Einfluss gehabt. Für beide Fahrten hat er 3000 Złoty, also umgerechnet weniger als 700 Euro erhalten, stellt das Gericht fest.

Für die Betroffenen ist die Flucht jedoch ungleich teurer. Auf dem Weg müssen sie oft zahlreiche solcher einzelnen Dienstleistungen in Anspruch nehmen, um Grenzen zu überwinden – wegen gewaltvoller Pushbacks häufig mehrmals für dieselbe Strecke. So können sich die Kosten einer Flucht schnell summieren; nach Angaben von Geflüchteten kostet etwa eine Flucht von Syrien bis nach Deutschland mehr als 10 000 Euro.

Im Fall des 40-Jährigen aus Polen zeigt sich der Staatsanwalt empört. Weil für die vier Personen auf der Rückbank des Transporters keine Anschnallmöglichkeit vorhanden war, sei eine »lebensgefährdende Behandlung« der Geschleusten unbestreitbar, so Vertreter der Justiz.

Im Gerichtssaal offenbart sich auf diese Weise die Doppelmoral europäischer Migrationspolitik: Während Politiker*innen das im Rahmen der kürzlich im EU-Parlament verabschiedeten Gemeinsamen Europäischen Asylreformreform geplante unmenschliche Festhalten von Asylsuchenden – auch Kindern – in Gefängnissen als legitime »Abschreckungsmaßnahme« sehen, wird mit dem Wohlergehen von Migrierenden argumentiert, wenn die Erleichterung der Einreise verfolgt wird.

Die Justiz ignoriert dabei, dass Schleusungen in der Regel auf Wunsch der Betroffenen passieren. Sie unterscheiden sich damit deutlich von Menschenhandel, auch wenn beide Phänomene in der öffentlichen Debatte oft miteinander gleichgesetzt werden. Die Stigmatisierung als »skrupellose Verbrecher« dient dazu, die Unterstützung von Menschen auf der Flucht grundsätzlich zu diskreditieren. »Geflüchtete haben keine legale Möglichkeit, ins Land zu kommen. Das ist der wahre Grund für das Aufblühen der Schleusungen seit letztem Sommer«, sagt dazu der Dresdner Rechtsanwalt Alexander Hübner, der regelmäßig Angeklagte in diesen Prozessen vertritt.

Folgt man der Argumentation und Wortwahl von Staatsanwalt- und Richter*innenschaft im Pirnaer Amtsgericht, entsteht der Eindruck, dass die Empörung über »Schleuser« vielmehr der Migration als solcher gilt. So wird der Angeklagte aus Polen gefragt, ob er nicht gewusst habe, dass es sich bei den Beförderten um »Illegale« gehandelt habe. Auch wenn er ihre Papiere nicht geprüft habe, müsse er »doch gesehen haben, dass diese offensichtlich keine Europäer gewesen seien«. Dass die Menschen »in Polen nicht willkommen« seien, müsse dem Angeklagten bewusst sein. Woher er sich das Recht nehme, »solche Leute« nach Deutschland zu bringen, fragt etwa der Richter.

Wer Personen ohne gültige Einreisepapiere hilft, die Grenze nach Deutschland zu passieren, begeht nicht zwangsläufig eine Straftat. Eine strafbare Tat ist dies gemäß Paragraf 96 Aufenthaltsgesetz erst, wenn eine Gegenleistung erwartet oder die Tat wiederholt begangen wird. Ebenfalls strafbar ist die Hilfe, wenn sie zugunsten mehrerer Personen ohne gültige Papiere erfolgt. Zuletzt verschärfte der Bundestag die Rechtslage durch das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz. Es sieht unter anderem empfindliche Straferhöhungen für »Einschleusungen« vor.

Die deutsche »Anti-Schleuser-Politik« verfehlt jedoch ihr eigentliches Ziel der Verhinderung von Grenzübertritten. Im Mai 2024 erklärte die Bundespolizeidirektion Pirna, dass die Zahl der »unerlaubten Einreisen« im Vergleich zum Vorjahr unverändert geblieben ist – trotz zahlreicher Festnahmen und einem seit Einführung von Grenzkontrollen zu Polen und Tschechien im Oktober nahezu vollständigen Rückgang der festgestellten Schleusertätigkeiten im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Das belegt die These vieler Solidaritätsorganisationen und aus der Forschung, wonach Verhaftungen und Grenzschließungen lediglich zu einer Verlagerung von Fluchtrouten führen.

Diese auf Abschottung und Verfolgung basierende Politik hat auch unmittelbare, direkte Konsequenzen für die lokale Bevölkerung. Bewohner*innen berichten, dass sie bei Ausflügen im Elbsandsteingebirge in der Vergangenheit wiederholt von der Polizei gestoppt und ihre Ausweise kontrolliert wurden, wenn Kopftuch tragende oder aus anderen Gründen als migrantisch gelesene Personen Teil der Gruppe waren. Über ein solches Erlebnis während einer Wanderung mit einem Wanderverein berichtet die Journalistin Riham Alkousaa auf der Plattform X (ehemals Twitter). Nach einem »Bürgerhinweis« wurden sie von der Polizei als »illegale Flüchtlinge« überprüft.

Die Stigmatisierung von »Schleusern« als »skrupellose Verbrecher« dient dazu, die Unterstützung von Flüchtenden grundsätzlich zu diskreditieren.

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