Frauen in der Politik: Mehr Sichtbarkeit, mehr Hass

Frauenfeindlichkeit grassiert in der niederländischen Politik. Viele Frauen ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück

  • Sarah Tekath, Amsterdam
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Abgeordneten Kauthar Bouchallikht (links) und Sylvana Simons waren Zielscheibe für Frauenhass in der niederländischen Politik.
Die Abgeordneten Kauthar Bouchallikht (links) und Sylvana Simons waren Zielscheibe für Frauenhass in der niederländischen Politik.

Sigrid Kaag ist eine der bekanntesten Frauen, die aus der Politik gemobbt wurden. Sie war Parteivorsitzende der linksliberalen Partei D66, Finanzministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin der Niederlande. Im Januar zog sie sich aus der Politik zurück.

Vielen ist noch eine Szene in Erinnerung, als sie von einer Gruppe von Menschen umringt wurde. Einige hielten blau-weiß-rote Flaggen, andere trugen brennende Fackeln. Die Stimmung war aufgeheizt, der Ton aggressiv. Kaag versuchte, mit den Demonstrierenden zu reden. Die Gruppe von Bauern und Bäuerinnen sowie Querdenker*innen war unzufrieden mit den Corona-Maßnahmen und Stickstoffplänen der Regierung. Nach einigen Minuten gab die Ministerin auf.

Anfeindungen wie diese, die Kaag im Februar 2022 im Osten des Landes nahe der deutschen Grenze erleben musste, sind kein Einzelfall. Bereits einen Monat zuvor war ein Querdenker mit einer brennenden Fackel vor dem Wohnhaus von Kaags Familie erschienen und hatte gefordert, sie zu sprechen. Danach belagerten er und seine Begleiter*innen das Haus. Die Politikerin rief die Polizei und erstattete Anzeige. Der Täter wurde später zu einer Gefängnisstrafe von fünf Monaten verurteilt.

Im Mai 2023 war Kaag bei der Talkshow »College Tour« beim Fernsehsender NPO2 eingeladen, bei der Studierende geladenen Gästen Fragen stellen können. Hier kam es zu einem emotionalen Moment: Kaag sah dort offenbar zum ersten Mal ein Video, in dem ihre beiden erwachsenen Töchter eine Botschaft an sie richteten.

Die jungen Frauen machten sich Sorgen. Denn es gab in der Vergangenheit bereits einen politisch motivierten Mord an einer Politikerin, Els Borst. Sie war von 1998 bis 2002 stellvertretende Ministerpräsidentin der Niederlande und wurde 2014 ermordet. Sigrid Kaags Töchter hatten Angst, dass ihrer Mutter das Gleiche passieren könnte.

Im Juli 2023 scheiterte das damalige Kabinett. Ministerpräsident Mark Rutte gab seinen Rücktritt bekannt, andere folgten seinem Beispiel, darunter Sigrid Kaag. Zur gleichen Zeit zog sich auch Liane de Haan, Parlamentsmitglied für die Senior*innenpartei 50 Plus, aus der Politik zurück. Sie nannte als Grund Frauenhass.

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Eine Abgeordnete, die solche Anfeindungen kennt, ist Lisa Westerveld. Sie ist seit 2017 im Parlament für die Partei Groenlinks vertreten. Ihre Themen sind Bildung, Jugend, die Rechte von queeren und behinderten Menschen.

Sie erinnert sich an das erste Mal, Ende 2017, kurz nachdem sie in die Tweede Kamer, das niederländische Parlament, eingezogen war. In einer Zeitung erschien ein kritischer Beitrag über sie, und anschließend habe sie ständig neue Posts in ihrer Timeline gehabt, erzählt sie. »Menschen, die fanden, dass ich dumm bin oder dass für mich Staubsaugen und Kochen doch besser sei als Politik. Der Artikel erschien an einem Freitag, und das hat mich das ganze Wochenende nicht losgelassen.«

Seitdem liest Westerveld oft Kommentare, in denen sie angefeindet wird: »Es hat in den vergangenen Jahren enorm zugenommen. Wenn ich etwas poste über Frauen oder LGBT-Rechte oder Diskriminierung und Rassismus, dann bin ich schon daran gewöhnt, Hassreaktionen zu bekommen.«

Westerveld hat festgestellt, dass es bei den negativen Äußerungen so gut wie nie um politische Inhalte geht. Meistens sind die Nachrichten sexistisch oder beleidigend. Oder sie bekommt negative Bemerkungen zu ihrer Kleidung oder ihrem Aussehen. Debatten im Parlament können per Livestream verfolgt werden. Noch immer bekomme sie Screenshots von einem Moment vor zwei Jahren, in dem bei ihr ein BH-Träger zu sehen war, erzählt sie. »Es gibt auch einen Screenshot von mir, wo ich ein Kleid mit V-Ausschnitt trage und mich gerade umdrehe. Man kann den Ansatz meiner Brüste sehen, aber total verpixelt, weil jemand aus dem Bild des ganzen Saals heranzoomen musste. Aber ich habe danach monatelang mein verpixeltes Dekolletee auf Twitter gesehen.«

Zwar kritisiert Westerveld diesen Hass gegen sich, aber sie weiß, dass es anderen Frauen noch schlimmer ergehen kann. »Ich habe keine Kinder, um die ich mir Sorgen machen muss. Ich bin keine Ministerin. Ich bin keine Woman of Color und ich trage kein Kopftuch.«

Denn Frausein ist nicht die einzige Angriffsfläche. Wissenschaftler*innen der Universität Utrecht untersuchten im Auftrag des Wochenmagazins »De Groene Amsterdammer« knapp 340 000 Tweets vom Oktober 2020 bis Ende Februar 2021. Es waren Tweets, in denen die für die Untersuchung ausgewählten, bekannten Politikerinnen direkt markiert waren. Dabei kam heraus, dass mindestens jeder zehnte Tweet ein Hasskommentar, frauenfeindlich und/oder sexistisch war.

Die meisten Anfeindungen erlebte Sigrid Kaag, damals Ministerin für Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, später Außenministerin, gefolgt von der schwarzen Politikerin und Gründerin der linksgerichteten, antirassistischen und feministischen Partei Bij1, Sylvana Simons. Hier kamen vor allem noch rassistische Anfeindungen hinzu. Ähnliches zeigte sich bei Kauthar Bouchallikht von der Partei Groenlinks, die ein Kopftuch trägt. Simons und Bouchallikht haben sich mittlerweile aus der Politik zurückgezogen.

Devika Partiman möchte trotz dieser Entwicklung dafür sorgen, dass sich mehr Frauen politisch engagieren und öfter auf wichtigen politischen Ebenen vertreten sind. Daher hat sie die Initiative »Wähle eine Frau« gegründet. »Wir dachten, dass durch mehr Frauen in der Politik der Sexismus automatisch weniger werden würde. Weil es irgendwann als normal empfunden werden würde, Frauen in Führungspositionen zu sehen. Dann würde auch der Hass nachlassen. Zwar nimmt zurzeit die Zahl der Politikerinnen zu. Aber die Gegenreaktion ist noch heftig.«

In den vergangenen Jahren gab es so viele Frauen wie noch nie in der niederländischen Politik. 2022 wurde eine Rekordzahl von Ministerinnen erreicht: 14 von insgesamt 29 Posten. 2023 kam eine weitere Ministerin dazu. Zurzeit wird von der neuen Koalition das Kabinett besetzt, nach den Wahlen im November, aus denen der rechte Politiker Geert Wilders als Wahlsieger hervorging.

Hass in der Politik sei nicht neu, sagt Partiman, aber er verändere sich. »In den 70ern und 80ern war es ein Brief oder jemand erschien an der Haustür. Aber nach meinem Gefühl ist es heute mehr. Weil es schneller geht, etwas zu tweeten, anstatt einen Brief zu schreiben.« Auffällig sei, dass es bei Hasskommentaren gegen Politikerinnen so gut wie nie um Inhaltliches gehe. Es seien vielmehr sexistische Beleidigungen und hämische Anmerkungen zu Aussehen oder Stimme. »Ich denke, je mehr jemand von der sogenannten Norm abweicht, umso größer ist das Risiko für Hass«, meint Partiman. »Die Norm ist der weiße Hetero-Mann mit Uniabschluss, der einen blauen Anzug trägt und nicht im Rollstuhl sitzt.«

Dass Attacken gegen Frauen in der Politik System haben, ist für die Politikwissenschaftlerin Liza Mügge von der Universität Amsterdam klar: »Wir sehen international, dass Hass eine aktive Strategie ist, um Frauen aus dem politischen öffentlichen Raum zu verjagen.« Ein Beispiel sei Hillary Clinton, die demokratische Politikerin aus den USA. Dieser Hass könne laut Mügge zu inhaltlicher Selbstzensur führen: »Wenn Politikerinnen bereits im Voraus wissen, dass ein bestimmtes Thema für heftige Reaktionen sorgt, dann überlegen sie sich sehr genau, ob sie es ansprechen oder posten. Das ist desaströs für die Demokratie.« Besonders riskant sei die Lokalpolitik, wo möglicherweise bekannt ist, wo die Eltern der Politikerin leben oder wo ihre Kinder zur Schule gehen.

Auch Partiman sieht eine bedenkliche Entwicklung. Das feindliche Klima sorge für Einschränkungen. Häufig wagten nur noch weiße Hetero-Frauen diesen Schritt, die etwas älter seien und offenbar denken, dass sie die Anfeindungen aushalten könnten. Eine junge Muslima mit Behinderung? Wohl eher nicht.

Lisa Westerveld sorgt sich längst um die Demokratie: Ein Parlament müsse ein Ort sein, wo alle ihre Meinung sagen können, dürfen und sollen. Aber wenn ein Klima der Angst dazu führe, dass manche Stimmen lieber schwiegen, dann sei Politik kein sicherer Ort mehr. Gerade deswegen wolle sie mehr Frauen in der Politik sehen. Außerdem findet sie, dass es Männer in allen politischen Parteien brauche, die gegen diese Entwicklung Stellung beziehen. Um zu zeigen, dass Hatespeech, Bedrohungen, Frauenhass und Hass auf Minderheiten nicht normal sind und es auch nicht werden dürfen.

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