Deutsche Wirtschaftsbosse gratulierten

Vor 90 Jahren: Blutiger Machtkampf unter Faschisten

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 8 Min.
SA-Führer Röhm und Diktator Hitler
SA-Führer Röhm und Diktator Hitler

Am frühen Morgen des 30. Juni 1934 steigt Hitler aus seinem schweren Mercedes und eilt zum Kurheim Hanselbauer in Bad Wiessee am Tegernsee. In seinem Gefolge: Propaganda-Minister Joseph Goebbels und der hannoversche SA-Führer Viktor Lutze sowie ein paar SS-Männer. Als erster wird der noch im Bett liegende Ernst Röhm, Stabschef der SA, verhaftet. Danach trifft es auch andere SA-Führer, die alle von Hitler zu einer Tagung dorthin befohlen worden waren und sich nun völlig überrascht des Hochverrats beschuldigt sehen. Transportiert werden etwa zwanzig hochrangige Braunhemden in die Münchener Zentrale der NSDAP. Das sogenannte Braune Haus ist von einer Kompanie der Reichswehr abgesperrt, eines der vielen Beispiele für die logistische und inhaltliche Unterstützung der Aktion gegen die SA-Führung.

Am Ende dieses und des nächsten Tages werden – nach später offiziell verkündeten, vielfach jedoch bezweifelten Angaben – 90 Menschen ermordet, teils standrechtlich, teils hinterrücks oder angeblich auf der Flucht erschossen. Alles geschieht ohne begründete Anklagen, ohne rechtliche Grundlagen, ohne Möglichkeiten für eine Verteidigung vor ordentlichen Gerichten. Selbst auf gewisse Normen früherer Femegerichtsbarkeit wird verzichtet. Faschistischer Terror pur!

Den hatten viele Deutsche bereits in Weimarer Zeiten erlebt. Und erst recht seit dem 30. Januar 1933 zu ertragen. Nun aber erreichte dieser Terror einen neuen Höhepunkt, zudem einen besonderen, denn er richtete sich nicht wie sonst gegen den antifaschistischen Widerstand. Zum Opfer fielen ihm Nazis aus den eigenen Reihen. Faschisten killten Faschisten! Darüber hinaus traf es auch deutschnational-konservative Verbündete im Konkurrenzstreit um die weitere Ausgestaltung des neuen Herrschaftssystems sowie im Ringen um weitere Schritte in Aufrüstung und Kriegsvorbereitung. In manchen Fällen wurde die Situation zudem schamlos genutzt, um alte Rechnungen begleichen zu können. Der blutige Machtkampf vollzog sich innerhalb der damaligen politischen, militärischen und geistigen Eliten.

Wie dies im Einzelnen vor sich ging, wer wann und wie umgebracht wurde, ist oft beschrieben worden. Keine der in riesengroßer Zahl vorliegenden Hitler-Biografien, keine der vielen Lebensbeschreibungen einzelner Personen, kein Buch zur Geschichte der SA, keine Darstellung der krisenhaften Situation im ersten Halbjahr 1934 kommt ohne ein entsprechendes Kapitel aus. In militärgeschichtlichen Publikationen sieht es mitunter etwas anders aus. Spezielle Arbeiten wurden kaum vorgelegt, worauf jüngst Peter Longerich (»Abrechnung. Hitler, Röhm und die Morde vom 30. Juni 1934«) und Sven Felix Kellerhoff »›Röhm-Putsch‹ 1934. Hitlers erste Mordaktion«) in ihren Überblicksdarstellungen nachdrücklich verweisen, der eine eher analytisch und deutend, der andere seinen journalistischen Erzählstil bevorzugend. In der Sache aber übereinstimmend: Eigentlicher Täter ist Hitler.

Es lohnt ein historiografischer Blick auf das, was jeweils vorrangig betont worden ist und worauf sich nun die aktuellen Darstellungen festlegen. Erste Untersuchungen zum Thema stellten Hitlers Zögern in der Auseinandersetzung mit Röhm in den Vordergrund und sahen in Göring, Himmler, Heydrich sowie in den Reichswehrführern Blomberg und Reichenau die treibenden Kräfte des blutigen Unternehmens. Darauf verwies vor allem der DDR-Historiker Kurt Gossweiler, der die seit Mitte der 1950er Jahre erfolgende Überbetonung der Rolle Hitlers in die bundesdeutsche Remilitarisierungszeit einzuordnen versuchte. Er stützte sich unter anderem auf eine nach dem 30. Juni 1934 erfolgte Aussage Reichenaus, »es sei wirklich nicht so leicht gewesen, die Dinge zum 30. Juni derart ›hinzukriegen‹, dass sich dieser Tag als eine ›reine Parteiangelegenheit‹« dargestellt habe.

In den neueren Publikationen ist davon (ebenso von DDR-Autoren) nichts zu lesen. Es fälltauf, dass jeder Hinweis auf Hitlers Treffen mit den höchsten Befehlshabern von Reichswehr und Reichsmarine am 3. Februar 1933 fehlt, in dem in strategischer Hinsicht ein kriegsvorbereitender Kurs abgesteckt worden ist: Zunächst sei die Demokratie zu beseitigen sowie der Marxismus und Pazifismus »mit Stumpf und Stiel« auszurotten, ferner gelte es, eine auf allgemeiner Wehrpflicht beruhende Streitmacht aufzubauen und das Volk, insbesondere die Jugend, auf neue Kriege einzustellen. In diesen würde es dann um die Eroberung von »Lebensraum« vor allem von Gebieten in Osteuropa sowie um deren »Germanisierung« gehen. Hitler hielt es auch für angebracht, den Generälen die zukünftige Funktion der SA darzustellen und hervorzuheben, dass »keine Verquickung von Heer und SA beabsichtigt« sei.

Seit Ende 1933 und vor allem in der ersten Hälfte des Jahres 1934 stellte sich allerdings heraus, dass dieses Versprechen nicht leicht eingelöst werden konnte. Hatte die SA bis zum 30. Januar mit terroristischen Mitteln und Furcht erregend zu einer Zerstörung der Weimarer Republik beizutragen, so sollte sie nun, wie andere Teilorganisationen der NSDAP auch, zu einer der tragenden »Säulen« des Staates umgestaltet werden. Ihre erste Aufgabe bestand jetzt darin, gemeinsam mit dem bisher bekämpften Staatsapparat dessen »Säuberung« von unliebsamen Kräften vorzunehmen. Dabei liefen rasch die Interessen von Nazi-Führern und den von ihnen geführten Anhängern auseinander. Erstere waren an der Staatsspitze angekommen. Und auch für einen relativ kleinen Kreis begann die Zeit neuer Karrieren, wachsenden Prestiges und gut bezahlter Posten. Doch massenhaft blieb solches für andere aus. Das neue Verhältnis von Partei und Staatsmacht brachte für viele keine Vorteile, kaum einen gesicherten Arbeitsplatz oder einträgliche Funktionen.

Zugleich nahm die Zahl der SA-Mitglieder rasant zu. Hatte die zu Beginn des Jahre 1933 rund 400 000 betragen, so verzehnfachte sich die Zahl binnen kurzer Zeit. In die SA wurden der »Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten« und andere paramilitärischen Verbände eingegliedert, die in Weimarer Zeiten mehrheitlich hinter der konservativen Deutschnationalen Volkspartei oder der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei gestanden hatten. Zugleich wuchs in ihren Reihen die Missstimmung über nicht eingelöste soziale und politische Versprechen. Hunderttausende unzufriedene Gefolgsleute sahen sich zurückgesetzt und folgten gern der Forderung von SA-Führern, es müsse die sogenannte nationalsozialistische Revolution fortgesetzt werden. Parallel dazu nahmen Pläne konkrete Gestalt an, die SA als eine Art Volksmiliz auszubauen. Im Rahmen der allgemeinen Aufrüstungspolitik rüstete auch die SA ihre Truppen militärisch auf. Die Reichswehr befürchtete immer mehr, von ihrer militärpolitischen Monopolposition verdrängt zu werden.

Der wachsende Konflikt zwischen Partei und einer ihrer zugeordneten Organisationen ging rasch über parteiinterne Auseinandersetzungen hinaus. Wirtschaftliche Probleme und der als zu gering empfundene Rückgang der Arbeitslosigkeit führten zu sozialen Problemen und sinkendem Vertrauen in die neue Staatsführung. Mit einer Kampagne gegen »Miesmacher« und »Meckerer« ließ sich nicht viel ausrichten. Zunehmend stand das Regime auch vor der Frage, wie im Interesse der Herrschenden am erfolgreichsten die Macht nach innen und nach außen zu sichern sei, zumal sich in konservativen, aristokratischen und katholischen Kreisen Bedenken gegen bisherige Regierungspraktiken und Pläne einer fortzusetzenden »Revolution« regten. Mit der am 17. Juni 1934 in Marburg gehaltenen Rede des Vizekanzlers Franz von Papen gerieten Vorbehalte gegen das Regime eines Einparteiensystems an die Öffentlichkeit. Gefährdet sahen die Nazifaschisten ihr Ziel, für den weiteren Weg eine stabile, verlässliche und auch in schwierigen Zeiten mobilisierbare Massengefolgschaft zu sichern.

Vor allem übte die Reichswehrführung wachsenden Druck aus, so bald wie möglich das Verhältnis zwischen ihr und der aufstrebenden SA endgültig zu klären. Zwischenfälle vor Ort führten zu gegenseitigen Vorwürfen sowie zu einer Vielzahl interner Gespräche und Verabredungen, von denen jedoch kaum eine eingehalten wurde. Schließlich bereiteten Hitler, Göring, Himmler, Heydrich den entscheidenden Schlag vor: Die SA sollte gleichsam enthauptet, also ihrer Führung beraubt werden. Sorgfältig und gründlich wurden geheime Befehle für den Einsatz von SS-Truppen und Angehörigen des von Heydrich geleiteten Geheimdienstes vorbereitet. Hitler agierte persönlich in Bayern, Göring im Berliner Raum, Heydrich in Schlesien und Sachsen. Zig geheime Befehle lagen den Handelnden bereits vor und wurden zu angegebenen Zeiten geöffnet und erfüllt. Festzustellen bleibt, dass das mörderische Räderwerk nahezu fehlerlos funktionierte. Was jeweils befohlen worden ist, stieß auf eine willige Bereitschaft zu töten.

So hatten sich de facto über Nacht in angeblicher »Staatsnotwehr« – davon sprach Hitler am 13. Juli 1934 vor dem Reichstag, in dem sich keine fragende, geschweige denn protestierende Stimme erhob – wesentliche strukturelle und auch personelle Änderungen im Machtgefüge der deutschen Faschisten vollzogen. Rasche Anerkennung spiegelte sich in zahllosen Danksagungen. Die Spitzen der Reichswehr, allen voran Reichswehrminister Werner von Blomberg, lobten Hitlers Vorgehen und schwiegen sogar zu den Ermordeten aus ihren eigenen Reihen. Auch aus Kreisen der Wirtschaft erhielt Hitler Glückwünsche zum Erfolg seines »schnellen Zupackens«, wodurch – wie die »Deutsche Bergwerkszeitung« schrieb – die Wirtschaft gerettet worden sei. Aus dem Kreis der deutschen Intellektuellen rührte sich kaum einer. Hingegen zeigte sich der bekannte Rechtsprofessor Carl Schmitt sogar bereit, dem »Führer« die oberste richterliche Gewalt zuzusprechen. Hitler konnte auf dem Nürnberger Parteitag prophezeien: »In den nächsten tausend Jahren findet in Deutschland keine Revolution mehr statt.«

Die unmittelbaren Folgen der blutigen Mordaktion traten rasch in Erscheinung. Hitler gewann neue Machtfülle, zudem nach Hindenburgs Tod das Amt des Reichskanzlers mit dem des Reichspräsidenten zusammengelegt worden ist und er zum obersten Befehlshaber der Wehrmacht aufstieg. Auch in seiner nächsten Umgebung, in der Schar der Nazi-Größen sah er sich stärker herausgehoben. Von nun stand er über der zweiten Führerreihe, in der es auch in den folgenden Jahren an Macht-, Kompetenz- und Rivalitätskämpfen nicht mangelte. Unentbehrlich schien er geworden zu ein. Er sei ein »Allein-Diktator« geworden, schreibt Longerich, das Fragwürdige einer solchen Formulierung nicht scheuend.

Zu den längerfristigen Folgen des Mordens vom 30. Juni 1934 gehörte die freie Bahn für verstärkte Aufrüstung, für die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und die Schaffung eines Massenheeres. Dabei ging es auch um die Verwirklichung jener detaillierten Pläne, die in der Reichswehrführung bereits Mitte der 1920er Jahre unter dem Titel »WH 808« ausgearbeitet worden sind und heute kaum erwähnt werden. In diesen Papieren wurde erklärt, man brauche künftig ein Massenheer von 2,8 bis drei Millionen Soldaten, organisiert in acht Armeen und 102 Divisionen. Anstelle der 42 Generäle in der Reichswehr sah man 252 für das »große« Heer vor. Und: Genau diese Zahl an Etatstellen für Generäle wies 1939 das Feldheer auf. Die 1925 geplante »Kriegsstärke« war 14 Jahre darauf erreicht, unmittelbar vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. Mit anderen Worten: Dem 30. Juni 1934 folgte der 1. September 1939.

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