Dampf im Kessel lässt nach
»Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten« – ein ganzes Jahrhundert parlamentarismuskritischer Bewegungen ließe sich in diesem Satz zusammenfassen. Radikale Veränderung des Bestehenden kann nicht durch die Form parlamentarischer Mitbestimmung gehen, weil das Parlament ein institutionelles Gefüge ist, dessen Sitzverteilung sich ändern mag, das aber Eigentumsfragen systematisch ausklammert und bestehende Besitzverhältnisse zementiert. Im Gegensatz zu rechter Parlamentarismusschelte, die den autoritären Führer anruft und Diskussionen als Geschwätz, das Parlament als »Schwatzbude« denunziert, zielt linke Parlamentarismuskritik immer auf ein »Mehr« an Mitbestimmung, Diskussion und wirklichem Veränderungsvermögen für das Volk.
Die sozialistische und anarchistische Parlamentarismuskritik favorisierte so auch auf die »direkte Aktion«: Es ging darum, die Orte des wirklichen Lebens zu besetzen, die Fabriken und Quartiere, und dort in Versammlungen und Räten über die unmittelbare Produktion und Verteilung zu bestimmen. Doch diese revolutionäre Ära des Anti-Parlamentarismus ist vorbei, ihr Endpunkt wurde markiert durch die Ermordung Rosa Luxemburgs, durch die Marginalisierung der Kommunistischen Arbeiterpartei (KAPD) gegenüber der KPD und durch die Vernichtung des spanischen Ana-rchismus 1936. Ein Vermächtnis dieser Ära stellt die fulminante Schrift »Arbeiterräte« von dem holländischen Rätekommunisten Anton Pannek-oek aus dem Jahre 1946 dar.
Nach den gescheiterten und erwürgten Revolutionen sowie der Integration der europäischen Arbeiterklassen in den Staat kam in der Nachkriegszeit nach einer Friedhofsruhe die Revolte eruptionshaft ins Spiel. Ihr sozialer Ort befand sich jenseits der Parlamente, die Frage einer direkten Öffentlichkeit jenseits der manipulierenden Macht der Medien-Konzerne wurde dringlich debattiert. Es entstand in den späten 60er Jahren ein Neo-Anarchismus und was nicht bloße Reminiszenz an die vergangene revolutionäre Ära war, war Dokumentation des Willens, die keynesianisch geformte und autoritär organisierte Gesellschaft hinter sich zu lassen. Es ging um ein »Mehr« an Mitbestimmung an den Universitäten, um neue selbstbestimmte Formen des Lebens, Wohnens, und der Kindererziehung.
Da sich die Revolte mit ihrer umstürzlerischen Forderung, der »Fabrikgesellschaft« ein Ende zu bereiten, nicht durchsetzen konnte, kam ihr eine modernisierende Funktion zu: Mehr Mitbestimmung in den Fabriken lief auf »Gruppenarbeit« hin-aus, aus der Kritik der lebenslangen Maloche in einer Fabrik wurde die »neue Selbstständigkeit«. Neue Bedürfnisse, die in den 70er Jahren auftauchten und von der Frauenbewegung und der Umweltbewegung artikuliert wurden, wurden von einer neuen Partei artikuliert, die anfangs als Anti-Parteien-Partei auftrat: die Grünen.
Diese Partei vereinigte linkes und konservatives Denken in sich und deckte ein gesellschaftliches Milieu ab, das von dem etablierten Parteienspektrum nicht repräsentiert wurde. Die noch vorhandenen außerparlamentarischen Bewegungen, vor allem die Hausbesetzerbewegung und die Anti-AKW-Bewegung, pflegte stets eine untergründige Komplizenschaft mit der Grünen Partei. Der Rückgriff auf respektable und geschützte Persönlichkeiten war im konfrontativen Aktivismus gefragt. Demonstrationen mussten angemeldet werden, parlamentarische Anfragen sorgten für produktive Unruhe und Kritik staatlichen Vorgehens. Auf Seiten der radikalen Linken erübrigte sich die Agitation für einen Wahlboykott angesichts des zunehmenden Bedeutungsverlusts der Parlamente und des Wachsens einer apolitischen und veränderungsunwilligen Nicht-Wählerschaft.
Die Grünen wurden ab Anfang der 90er Jahre vorbehaltlos zur Partei der ressourcenstarken neuen Mittelschicht und kündigten die eigentümliche Kooperation mit den neuen sozialen Bewegungen auf. Sie hatten den Dampf im Kessel, den Rauch auf den Straßen zur eigenen Legitimation als Grenzträgerin zur Macht schlicht nicht mehr nötig. Der rot-grüne Atomkompromiss war ein Schlag ins Gesicht der Anti-AKW-Aktivisten, der NATO-Kosovo-Krieg ein Tritt ins Hinterteil des Pazifismus und Antimilitarismus.
DIE LINKE hat in Hinblick auf die Politik außerparlamentarischer Bewegungen in vielerlei Hinsicht die Rolle der Grünen übernommen. Sie ist die Partei der außerparlamentarischen Montagsdemonstrationen gegen das Hartz-IV-Verarmungsprogramm. Kritische, antifaschistische Anfragen beispielsweise zur Gebirgsjäger-Traditionspflege in Mittenwald kommen von ihr, Politiker der Linken melden linke Demonstrationen an. Aber wohin geht die Reise dieser Partei? DIE LINKE ist nicht die Partei des universellen Glücksversprechens, eines emphatischen Fortschrittsbegriffs und der Revolution. Das ist klar, sie hat sich der alles anderen als revolutionären Ära angepasst. Sie ist aber auch nicht die Partei der neuen Bedürfnisse, sondern der alten: eine Sozialstaatspartei des Linkskonservativismus, eine Erbin der Godesberger Sozialdemokratie, welche spätestens nach der Regierung Schröder in der SPD keinen Platz mehr hatte.
In der Opposition mag Die Linkspartei eine große Sperrminorität aufbringen gegen die nach der Wahl so oder so eintretende Kürzungs- und Sparpolitik. In der Regierungsverantwortung wird sich ihre Politik noch viel schneller gegen die außerinstitutionellen Bewegungen und die Bedürfnisse der Subalternen richten als es bei den Grünen der Fall war. Dort, wo DIE LINKE bereits Verantwortung trägt, wird einiges geleistet. Doch diese Leistung passt sich in den keinesfalls aufgekündigten neoliberalen Mainstream nahtlos ein.
Gerhard Hanloser, Jahrgang 1972, ist Sozialwissenschaftler aus Freiburg im Breisgau. Sein Arbeitsschwerpunkt sind außerparlamentarische Bewegungen und die Ideengeschichte der radikalen Linken. Letzte Veröffentlichung von Hanloser: »Die Neue Linke und die soziale Frage«, in: »Alte Linke – Neue Linke? Die sozialen Kämpfe der 1968er Jahre in der Diskussion« (Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bd. 57) im Dietz Verlag.
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