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Sein in der Welt des Spiels und Scheins
Helene Hegemann wird plattgemacht. Das hat ihr abgründiger Roman »Axolotl Roadkill« nicht verdient
V on einem Tag auf den anderen war Helene Hegemann aus den Zeitungen verschwunden, genauso plötzlich, wie sie dort hineingesaugt worden war. Vier Wochen lang war die Erregungsmaschinerie über die blutjunge Autorin und ihr überaus originelles Romandebüt gewalzt, aufgeheizt von Hegemanns vermeintlichem Vergehen: Plagiat. Die jetzt neu eröffnete Debatte über jene paar Halbsätze, die die Autorin anderswo borgte, hat ein großes Buch bedauernswert klein gemacht. Denn eine Walze bleibt eine Walze, auch wenn sie durchs Feuilleton rollt. Wo sie ihre Arbeit verrichtet, werden Gipfel eingeebnet und Abgründe. Am Ende ist alles platt.
Aber »Axolotl Roadkill« ist nicht platt. Erst die irreführende Plagiatsdebatte hat dieses Buch zum Erlebnisbericht einer Minderjährigen schrumpfen lassen, die gar nicht selbst erlebt haben kann, wovon sie schreibt – und deshalb abschreibt. Nicht Hegemann, sondern erst ihre Leser haben den Maßstab der Authentizität als jenen ausgemacht, an dem sich dieser Roman bewerten lassen soll. Die Annahme, dass das Buch sich als Stimme einer Generation ausgeben will, ist absurd. Keine, oder doch wenigstens kaum eine 16-Jährige ist offenkundig so drauf wie Hegemanns Mifti. Gerade die Tatsache, dass dieses Mädchen mit der außergewöhnlichen Kombination aus tragischer Familiengeschichte, intellektueller Hochbegabung und einem mystischen Hang zum Nihilismus geschlagen ist, macht ihren »Bericht« so spannend: Eine derart überzeichnete Kunstfigur ist tausendmal fähiger, uns zu offenbaren, was in der »echten« Welt im Argen liegt, als jede »authentische« Person.
Wie kann man auf die Idee kommen, die Autorin müsse selbst erlebt haben, was sie ihrer Figur andichtet? An einer Stelle des Buches ist von den Kunstkritikern die Rede. Es sei gar nicht die Arroganz, die deren Treiben so schändlich mache, und auch nicht ihre Dummheit. Es sei ihre Faulheit.
Es lohnt, das Buch erneut zu ergründen. Aus dem Haufen Asche – kaum mehr hat das mediale Strohfeuer zurückgelassen – ersteht ein Phönix. War uns das atemlose Zerstörungswerk der 16-jährigen Mifti zunächst als wortwuchtiger Verwahrungsakt gegen den Selbstbetrug des Erwachsenwerdens erschienen, so müssen wir nun feststellen, dass das Buch viel tiefer greift, als ein Adoleszenzroman es je vermocht hätte. Der wankende Boden der kulturbeflissenen, gleichwohl verwahrlosten Sex- und Drogenwelt, in die Hegemann ihre Leser hineinzieht, hat überall Löcher, durch die man hinabsehen kann in die Urgründe alles Menschlichen, das Heute vor Augen.
Es geht Mifti, diesem hochbegabten »Arschkind, das mit seiner versnobten Kaputtheit kokettiert«, auch, aber keineswegs nur darum, »die Kaputtheit seines Umfelds gleich mitzuentlarven«. Es geht ihr mehr noch um die Frage, was vom Menschen bleibt, wenn er ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist, wenn also kein Wert mehr zählt und keine Konvention mehr gilt – (womöglich nicht mal das Urheberrecht). »Vielleicht ist man erst dann unschuldig, wenn man keine Vorstellung von Moral mehr hat«, heißt es im Buch. Dieses Vielleicht in ein Gewiss zu verwandeln, ist die Mission der mutterlosen Mifti, die sich sehnt nach Gottverlassenheit.
Der Hass auf den eigenen Körper mag eine pubertätsspezifische Empfindung sein, nicht allzu selten geht er wie bei Mifti mit einem krassen Hang zur Selbstzerstörung einher. Der lebenslange Zweikampf zwischen Körper und Geist aber ist keine Jugendfantasie, sondern menschliches Urdilemma. Miftis Entleibungsbemühungen sind: Vergeistigungsversuche. Aber es ist Gott, den sie als jene »nicht in meinem Besitz stehende Kraft« ausmacht, die sie »zurückzerrt ... in dieses verschimmelnde Ding«, ihren Körper. »Ich hasse Gott.«
Borniert wirken die Versuche von Miftis Mitmenschen, die Schulverweigerin zurückzuzerren in den Trott, der das Leben sein soll. »Zieh das Ding einfach durch«, lautet der Appell, dem Mifti nicht folgen will noch kann. Sich einzureihen in die Kolonne jener »ordentlich zurechtgemachten Individuen, die vertrauensvoll und sozialverträglich genug sind, um sich gegenseitig von ihrem ernüchternden Wissen über die Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins ablenken zu können«, das ist Mifti ein undenkbarer Gedanke. Ihr Gegenentwurf besteht im Verlangen, ewig Kind zu bleiben, so wie der titelgebende Lurch, das Axolotl.
Mifti weiß, dass das nicht geht – und tut es trotzdem, indem sie das Prinzip des Theaters – »die Welt der gesellschaftlichen Gesetze gegen diese Welt des Spiels und des Scheins austauschen« – auf ihr Leben anwendet. Deshalb macht dieses durch und durch reflektierte Buch schaudern: weil solche Lebensvirtualisierung »längst kein Insiderphänomen« mehr ist.
Dass eine 17-Jährige all das selbst geschrieben hat, ist in der Tat unglaublich angesichts der klugen Gedankenspiegelungen. Aber es bleibt wahr – trotz nachgereichter Quellenangaben: Nur eine 17-Jährige kann so ein Buch schreiben. Die schonungslose Offenheit des Denkens und Fühlens ist Fluch und Privileg – der Jugend.
Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Ullstein, 208 S., brosch., 14,95 €.
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