Eine bessere Sicherungsverwahrung ist möglich
Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Neues Konzept mit dem Ziel der Resozialisierung gefordert
Schon wieder kommt Arbeit auf den Gesetzgeber zu: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe hat die Regelungen zur Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt. Straftäter nach der Verbüßung ihrer Haftstrafe so wie bisher wegzusperren, sei mit dem Freiheitsgrundrecht nicht vereinbar. Die Regelungen entsprächen nicht »den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Abstandsgebots«, heißt es in der Pressemitteilung des Gerichts. Das bedeutet, dass die Verwahrung bisher nicht wesentlich vom regulären Strafvollzug zu unterscheiden war.
Das Thema Sicherungsverwahrung hat Justiz und Politik in den letzten Jahren immer wieder beschäftigt. So wurde es 1998 möglich, Straftäter länger als zehn Jahre in Sicherungsverwahrung zu halten. Das Verfassungsgericht selbst billigte 2004 darüber hinaus eine nachträgliche Verhängung der Verwahrung. Straftäter, die während der Haft als gefährlich eingestuft wurden, konnten eingesperrt bleiben, obwohl das bei ihrer Verurteilung nicht vorgesehen war.
Im Dezember 2009 wertete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg die nachträgliche Aufhebung der zehnjährigen Höchstdauer der Sicherungsverwahrung für Straftäter, die vor der Reform verurteilt worden waren, als Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot. Zudem kritisierte der EGMR die deutsche Vollzugspraxis. Faktisch handele es sich um eine Fortsetzung der Haftstrafe, lautete die Begründung, die Bemühungen um eine Resozialisierung der Gefangenen seien unzureichend. Erst im vergangenen Dezember schränkte der Bundestag die Möglichkeiten für die nachträgliche Verhängung einer Sicherungsverwahrung stark ein – die laut EGMR ebenfalls menschenrechtswidrig ist.
Mit Bezug auf die Entscheidungen des EGMR, »die neue Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes enthalten«, hat das Bundesverfassungsgericht nun sein eigenes Urteil von 2004 teilweise revidiert. Mit dem gestrigen Urteilsspruch ist der Gesetzgeber gefordert, ein neues Gesamtkonzept für die Sicherungsverwahrung vorzulegen, mit dem Ziel, Straftäter umfassend psychisch zu betreuen und für ihre Entlassung in die Freiheit vorzubereiten. Mindestens einmal pro Jahr soll gerichtlich geprüft werden, ob eine Fortsetzung der Verwahrung erforderlich ist.
Die vier Kläger und die anderen rund 500 Straftäter in Sicherungsverwahrung können noch keineswegs Zukunftspläne schmieden. »Eine solche Situation würde Gerichte, Verwaltung und Polizei vor kaum lösbare Probleme stellen«, sagte Gerichtspräsident Voßkuhle. Grundsätzlich gilt: Solange es noch kein neues Gesetz gibt, längstens aber bis Ende Mai 2013, wird weiterhin das alte angewendet. Die so genannten Altfälle – mehrere Dutzend Personen, die nach dem Straßburger Urteil eigentlich freigelassen werden müssten – sind »unverzüglich« zu prüfen, wie Voßkuhle sagte. Nur wenn sie aufgrund ihres Verhaltens und psychischer Störungen als hochgradig gefährlich gelten, dürfen sie weiter eingesperrt bleiben. Anderenfalls kommen sie tatsächlich bis Ende des Jahres frei.
Alle anderen Betroffenen können zunächst allenfalls auf eine Verbesserung der Bedingungen während der Verwahrung hoffen. Werden Therapien und Betreuung verbessert, so wie es das BVerfG fordert, könnte sich langfristig die Zahl der Personen in Sicherungsverwahrung reduzieren.
Die Opposition sieht sich durch das Urteil in ihrer Kritik an den geltenden Regelungen zur Sicherungsverwahrung bestätigt. Für den Rechtspolitiker Jerzy Montag (Grüne) steht die schwarz-gelbe Koalition »vor einem rechtspolitischen Scherbenhaufen«. Wolfgang Neskovic (LINKE) kritisierte jedoch auch die Altfallregelung. Damit bestehe auch künftig die Gefahr, dass Personen menschenrechtswidrig ihrer Freiheit beraubt werden, erklärte er.
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