Mittagszeit in Rizhao

nd-Serie: Das Reich der Mitte – die neue Supermacht? (Teil 1)

  • Julian Marioulas
  • Lesedauer: 7 Min.
China entdeckt seine eigene Geschichte als »Reich der Mitte« im 21. Jahrhundert wieder: Während die westliche Welt unter der Finanzkrise leidet, entwickelt Peking deutlich spürbar außenpolitisches Machtbewusstsein. Zugleich muss das Land jedoch für eine Vielzahl von Problemen Lösungen finden. In einer vierteiligen nd-Serie schildern vier Autoren aus unterschiedlichen Blickwinkeln ihre Sicht auf das heutige China.
Julian Marioulas unterrichtet seit März dieses Jahres als Deutschlehrer am Shandong Berufskolleg für Fremdsprachen in Rizhao, einer Stadt an der Küste der chinesischen Provinz Shandong.
Marioulas wurde 1983 in Hamburg geboren, zog mit 16 Jahren nach Griechenland und vier Jahre darauf zurück nach Deutschland. Er studierte Geschichte und Politik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
Julian Marioulas unterrichtet seit März dieses Jahres als Deutschlehrer am Shandong Berufskolleg für Fremdsprachen in Rizhao, einer Stadt an der Küste der chinesischen Provinz Shandong. Marioulas wurde 1983 in Hamburg geboren, zog mit 16 Jahren nach Griechenland und vier Jahre darauf zurück nach Deutschland. Er studierte Geschichte und Politik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Da saß ich und hatte gerade meinen ersten großen Kulturschock in China erlebt. Sechs Monate in China, und dann so etwas. Es war Mittagszeit, die Mensa des Kollegs gut gefüllt. Für mich das übliche - eine Teigrolle gefüllt mit allerlei Gemüse. Drei Tische weiter saß der US-amerikanische Lehrer, die Augen geschlossen, die Hände zum Gebet gefaltet. Ihm gegenüber ein chinesischer Student. Eine ganze Weile flossen leise Worte über ihre Lippen, nur einzelne fing ich auf. Die tief andächtige Haltung der beiden verriet, wie wichtig ihnen diese Zeremonie war. In all meinen Jahren in Deutschland und Griechenland habe ich ein derart inbrünstiges Gebet vor dem Essen nie erlebt. Auch meine gläubigen Freunde nahmen sich dafür höchstens ein paar Sekunden Zeit.

Es war nicht die erste Gelegenheit, bei der mir die extreme Religiosität der US-amerikanischen Gemeinde auffiel, aber die offensichtlichste. Wenige Tage später, auf dem Campus des Nachbarkollegs, baten mich einige chinesische Studenten, mal bei ihnen im »English Corner« vorbeizukommen, dem wöchentlichen Treffen all jener, die ernsthaft Englisch lernen wollen. Sie waren es überdrüssig, dass ihre Lehrer sie bei jeder dieser Gelegenheiten dazu drängten, die Bibel zu lesen. Die Lage war offensichtlich ziemlich akut, denn es bedarf schon großer Unzufriedenheit, bis sich chinesische Studenten bei anderen Ausländern über ihre Austauschlehrer beschweren.

Kopfschütteln über die Westler

Über die Westler hier musste ich schon so manches Mal den Kopf schütteln. Dagegen ist mir China in den acht Monaten, die ich hier lebe, weit weniger fremd, als ich anfangs befürchtet hatte. Viel größer ist mein Unverständnis angesichts des missionarischen Eifers, den US-amerikanische Lehrer und Studenten hier an den Tag legen. Alles andere, sei es der chaotische Verkehr, die ineffizienten Dienstleistungen, unangekündigte Stromausfälle oder das seltsame Handeln einzelner Chinesen, könnte man auch anderswo in der Welt erleben. Kulturelle Normen und Verhaltensweisen unterscheiden sich natürlich von den europäischen, aber etwaiges Unverständnis lässt sich nach einer gewissen Eingewöhnungszeit ausräumen, zumal wenn man sich in der Landessprache unterhalten kann. Der Rest sind Anekdoten, mit denen man zu Hause in Deutschland punkten kann und die häufig auf Buchformat ausgeweitet werden, schließlich lässt sich mit dem Thema China immer gut Geld verdienen.

Wohlgemerkt spreche ich nicht von den armen Westprovinzen wie Xinjiang oder Sichuan, aber auch nicht von den Ballungszentren des Fortschritts - Peking, Shanghai oder Shenzhen. Ich lebe im vergleichsweise beschaulichen Rizhao, einer Hafenstadt auf halbem Wege zwischen Peking und Shanghai, an der Küste der Provinz Shandong, die wiederum als Geburtsstätte Konfuzius' und der antiken chinesischen Philosophie schlechthin bekannt ist. Aus neuerer Zeit ist wohl vorrangig das Qingdao-Bier zu nennen, der beliebteste Export deutscher Trinkkultur in China.

Die Stadt Rizhao selbst ist auch ein Produkt der Neuzeit. Bis 1991 war sie nicht viel mehr als eine Ansammlung von Bauerndörfern, ein Landkreis des benachbarten Linyi. Mit 2,8 Millionen Einwohnern - das Umland eingerechnet - ist Rizhao (»Stadt des Sonnenscheins«) eine der kleineren Städte der Provinz Shandong.

Die rasante Entwicklung des Landes ist aber auch hier längst angekommen. Wenn ich aus dem Fenster der Mensa schaue, sehe ich Baukräne, die sich über das gesamte Areal von Donggang türmen, dem urbanen Distrikt der Stadt. Gegenüber der imposanten Zentrale der Bank of Rizhao stand vor einem halben Jahr noch ein Quartier von Bauernkaten. Inzwischen sind sie in Bauschutt aufgegangen, und bis Ende 2012 dürften Hochhäuser ihren Platz eingenommen haben.

Dieses Bild wiederholt sich vielfach an anderer Stelle. Jeden Tag bekomme ich auf der Straße Flyer in die Hand gedrückt, bunt bebilderte Kaufangebote für dieses oder jenes Apartment in einem der neuen Wohnkomplexe. Die Preise hier sind noch bezahlbar, ganz im Gegensatz zu denen in den großen Städten. Der Quadratmeterpreis liegt bei 4000 Yuan (460 Euro) in einem besseren Viertel, so dass sich der Käuferkreis nicht auf wohlhabende Investoren beschränkt. Auch die wachsende Mittelschicht ist durchaus bereit, ihren Wohnsitz für längere Zeit in Rizhao zu wählen. Angesichts der günstigen Lage und der reizvollen Natur - nicht zuletzt hat die Stadt einen weiten Sandstrand und im Hinterland malerische Hügelketten - klingt das zunächst ideal. Für mich sprächen dennoch zwei Gründe dagegen: zum einen die Bauqualität, die selten den Vorgaben entspricht, zum anderen die Tatsache, dass Rizhao kaum eine gewachsene Kultur hat, sondern ganz auf Wirtschaft ausgerichtet ist. Das ist ein Phänomen, das in China auf viele Städte zutrifft und zunächst verwundern mag. Ist denn China nicht ein Land uralter Hochkultur? Wo sind die Relikte dieser Zeit geblieben?

Aufsteiger müssen keine Rücksicht nehmen

Das China der Gegenwart ist keine Hochkultur, sondern ein Entwicklungsland. Das ist keine zweckdienliche Behauptung der chinesischen Regierung, sondern eine Tatsache. Ein Entwicklungsland mit rasantem Fortschritt zweifellos, aber im Denken und Handeln noch immer sehr agrarisch geprägt. Vieles von dem, was einem Fremden möglicherweise merkwürdig scheint, das Spucken auf der Straße beispielsweise oder die deutlich vernehmbaren Ausrufe im Angesicht eines »Laowai« (Ausländers), spricht für das Fehlen einer gewachsenen bürgerlichen Schicht außerhalb der großen Ballungszentren. Und selbst dort ist diese Schicht durch Zuwanderung »zersetzt«. Das 20. Jahrhundert war eine Zeit enormer Tragödien für das gesamte Land, und erst die jüngsten Jahrzehnte haben überhaupt so etwas wie Sicherheit, materiell und rechtlich, mit sich gebracht. Hinzu kommt das enorme Wirtschaftswachstum, das eine Gesellschaft von Aufsteigern erzeugt, die Innovation mit Rücksichtslosigkeit zu vereinen wissen. Wer einen BMW fährt, braucht sich nicht an die Verkehrsregeln zu halten. Geld ist Ausdruck von Erfolg, nicht der Habitus.

Welche Rolle spielt da noch der Sozialismus? Die Antwort auf diese Frage fällt nicht eindeutig aus. Die Schlagworte »Sozialismus mit chinesischen Merkmalen« und »Harmonische Gesellschaft« sind von der Kommunistischen Partei vorgegeben. Das Festhalten am Sozialismus im Selbstverständnis des Regierungsapparats mag vielfach nur als Lippenbekenntnis verstanden werden, doch wer die Politik aufmerksam verfolgt, wird feststellen können, dass rechtsstaatliche Strukturen und arbeitsrechtliche Absicherungen die Willkür von Beamten und Arbeitgebern ganz allmählich ablösen. Freilich, bis sie tatsächlich die Realität beherrschen, wird auch hier in Rizhao sicher noch mehr als ein Jahrzehnt vergehen.

Wenn ich einen Blick auf Karten und Entwürfe der Stadtplaner werfe, ist ohnehin meistens das Jahr 2020 als Etappenziel zu erkennen. Bis dahin studieren die Erstsemester weiterhin Marxismus als Pflichtfach. Auch ein deutscher Export nach China, vielleicht sogar der erfolgreichste.

Heute ist die Partei überwiegend leistungsbasiert aufgebaut, und wer ihr beitreten möchte, braucht entweder gute Beziehungen oder gute Studienergebnisse - am besten aber beides. Als ich als Prüfer in den Bewerbungsgesprächen der Hochschule saß, fiel mir auf der Bewerberliste der Vermerk »Parteimitglied« auf. Ich fragte meine Kollegin, wie wichtig diese Mitgliedschaft sei, zumal es sich bei unserer um eine private Bildungseinrichtung handelt. Sie entgegnete, solche Bewerber würden bevorzugt, aber Voraussetzung für die Zulassung sei das Parteibuch nicht. Das sei vor allem eine persönliche Präferenz des Schuldirektors.

Die neue Deutschlehrerin ist tatsächlich Parteimitglied, in anderen Fächern unterrichten auch Lehrkräfte, die nichts mit der Partei am Hut haben. Abseits der Bereiche Bildung und Verwaltung ist es bei der Stellensuche ohnehin schon lange nicht mehr von Bedeutung, wie treu jemand zum Staat steht. Unter meinen Studenten gibt es neuerdings ein Pärchen, in dem sie Anwärterin auf die Parteimitgliedschaft und ihr Freund glühender Parteigegner ist. So ändern sich die Zeiten.

Versuche der Seelenrettung?

Zurück am Essenstisch, sinniere ich beim letzten Biss in die Teigrolle darüber, worin das Ziel der ein paar Tische weiter praktizierten Erweckungs- und Bekehrungsübungen bestehen könnte. Wahrscheinlich, ein paar verlorene chinesische Seelen zu retten. Der Gedanke ist mir nicht gerade sympathisch. Großen Erfolg dürften solche Versuche im säkularen China aber nicht haben. Während das Land rasch voranschreitet, bleibt mir nur, die Entwicklung zu verfolgen, zu lernen und zu hoffen, dass Missverständnisse ausgeräumt werden. Denn die Entwicklung Deutschlands und Chinas wird sich fraglos in Zukunft weiter verzahnen.


Im nächsten »wochen nd«:
»Die Lage der arbeitenden Klasse Chinas«

Studenten auf dem Weg zur Mensa
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