Die Legende vom genügsamen chinesischen Arbeiter
nd-Serie: Das Reich der Mitte – die neue Supermacht? (Teil 2)
Demnächst wird erstmals in der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas einer der reichsten Männer des Landes (und der Welt) Mitglied des Zentralkomitees der Partei sein. Bereits seit einiger Zeit gestatten die Statuten der Partei die Mitgliedschaft von Unternehmern. Nach vorsichtigen Schätzungen sind unter den Delegierten der Parteikongresse maximal 1 bis 5 Prozent, die sich selbst der chinesischen Arbeiterklasse zurechnen. Man mag bezweifeln, ob die Arbeiterklasse jemals in der Geschichte der Volksrepublik China »historisches Subjekt« war. Gegenwärtig jedenfalls - und darin sind sich Experten aufgrund diverser Untersuchungen einig - dürfte das gesellschaftliche Ansehen der Arbeiter einen historischen Tiefstand erreicht haben.
Was noch zu Zeiten Maos Anerkennung fand, empfinden die meisten Menschen in China heute als Last: zur arbeitenden Klasse zu gehören. In dem Land mit den höchsten und längstanhaltenden Wachstumsraten ist die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse kein »Privileg« mehr, sondern eine ökonomische und soziale Last.
Und dennoch: Die bisweilen »totgesagte« chinesische Arbeiterklasse macht von sich reden. Zahlreiche Legenden wurden nicht zuletzt auch von ausländischen Investoren geschaffen und verbreitet: Chinesische Arbeiter seien bescheiden, genügsam, zurückhaltend und wenig konfliktorientiert. Sie würden ihre Rechte meistens gar nicht wahrnehmen, da Chinesen ohnehin nichts von juristischen Auseinandersetzungen hielten und sich nach konfuzianischer Tradition mit ihren Vorgesetzten und Arbeitgebern lieber gütlich einigen würden.
Abwehrreaktionen bei Foxconn und Honda
Man muss bezweifeln, dass diese Legenden jemals einen realen Hintergrund hatten. Fest steht, dass in den chinesischen Medien die Berichterstattung über Streiks und Arbeitskonflikte stets eingeschränkt war. Doch seit die Medien für einen kurzen Zeitraum umfassend über die katastrophalen Verhältnisse an den verlängerten Werkbänken des iPhone-Produzenten Apple berichten konnten, sind die chinesischen Arbeiter wieder in den Fokus geraten. Zu offensichtlich waren die Signale, die von den zahlreichen öffentlichen Selbstmorden bei Foxconn ausgingen. Eine Welle der Empörung erfasste das Land. Dabei waren und sind die Verhältnisse bei Foxconn keineswegs die schlimmsten. Aber in der chinesischen Arbeitswelt ist es nicht viel anders als in der Arbeitswelt kapitalistischer Industrienationen: Zu spektakulären Vorfällen kommt es keineswegs immer dort, wo es den Arbeitern am schlechtesten geht. Vielmehr müssen zahlreiche subjektive und objektive Bedingungen hinzukommen.
Bei Foxconn war es die Tatsache, dass dort systematisch im Zusammenwirken mit staatlichen Institutionen Schüler und junge Studenten unter dem Vorwand von »Praktika« als billige Arbeitskräfte missbraucht wurden und das Unternehmen nicht die geringsten Anstalten machte, Versprechen einzuhalten. Völlig unerfahrene Schüler, die mit der Arbeit zumeist physisch und psychisch überfordert waren, griffen in ihrer Verzweiflung zu dem aus ihrer Sicht spektakulären Mittel des Selbstmords. Von Seiten der chinesischen Gewerkschaften erhielten sie keine Unterstützung. Schlimmer noch: Die meisten dieser jungen Arbeiter wussten überhaupt nicht, dass es eine Gewerkschaft gab.
Doch die Selbstmorde bei Foxconn waren keineswegs die einzige und noch nicht einmal typische Abwehrreaktion von Arbeitern gegenüber ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in chinesischen Fabriken. Im Gegenteil: Dank der Tatsache, dass japanische Unternehmer in der chinesischen Öffentlichkeit nicht unbedingt hoch angesehen sind, wurde über den Arbeitskonflikt bei Honda zunächst umfassend berichtet. Dort hatten die Arbeiter auf fantasiereiche Weise die Arbeit niedergelegt und die chinesische Öffentlichkeit über das Internet mobilisieren können. Da von den chinesischen Gewerkschaften, die regelmäßig auf der Seite der Unternehmen und der Regierung stehen, keine Hilfe zu erwarten war, suchten sie Rat bei einem der renommiertesten Arbeitsrechtsprofessoren Chinas. Prof. Chang Kai von der Renmin-Universität in Peking führte die Verhandlungen mit dem Management über einen Tarifvertrag. Alle Forderungen der Streikenden wurden erfüllt. Zu den Streikführenden gehörte eine 19-jährige (!) Arbeiterin, die über das Internet auch den Kontakt zu dem Arbeitsrechtsprofessor hergestellt hatte. Im Nachhinein legalisierten die offiziellen Gewerkschaften das Vorgehen.
Der Streikfunke soll nicht überspringen
Honda wirkte als Beispiel für zahlreiche andere Streiks, bei denen keineswegs nur höhere Löhne gefordert wurden, sondern vor allem die Forderung nach unabhängigen Betriebsgewerkschaften gestellt wurde. »Unabhängig« hieß hier nicht, unabhängig vom offiziellen gewerkschaftlichen Dachverband, wohl aber frei und demokratisch gewählt. Unter den gegenwärtigen politischen und juristischen Verhältnissen in China gilt allein die Forderung nach sogenannten freien Gewerkschaften, unabhängig vom gewerkschaftlichen Dachverband, als äußerst gefährlich. Es ist auch keineswegs so, dass die Staatsmacht bei den meisten der seit 2010 durchgeführten Streiks nur zugeschaut hätte. Im Gegenteil: Zwar wurde die Mehrzahl der Streiks geduldet, viele Streiks waren tatsächlich auch erfolgreich, gleichzeitig aber achtete die Polizei strikt darauf, dass die Streiks etwa durch Demonstrationen nicht auf andere Unternehmen übersprangen. Hinzukommt, dass in der Mehrzahl der Arbeitskämpfe die Forderungen zwar formal erfolgreich waren, gleichzeitig aber die Unternehmen ihre Strategien änderten: Foxconn beispielsweise - eines der größten Unternehmen weltweit - lagerte zahlreiche Betriebe nach Zentralchina aus und tauschte auf diese Weise einfach die Belegschaften aus. Arbeitskampferfahrungen oder gar »Klassenbewusstsein« konnten auf diese Weise nicht entstehen.
Die Partei- und Staatsführung hofft, die Arbeiter auf den »individuellen Weg« der Rechtsdurchsetzung verweisen zu können. Nicht zufällig hat sie die Wahrnehmung individueller Rechte durch das Arbeitsvertragsgesetz von 2008 propagiert. Dieses Gesetz enthält tatsächlich eine Vielzahl neuartiger Rechte, die zum Teil sogar über den westeuropäischen Standard hinausgehen. Gesetzlich vorgeschriebene Überstundenzuschläge von bis zu 150 Prozent sind in Deutschland ebenso unbekannt wie gesetzlich vorgeschriebene Abfindungen beim Abschluss von Aufhebungsverträgen (ohne Sozialplan!). Neueste Untersuchungen zeigen, dass das Gesetz tatsächlich zu einer erheblichen Zunahme von Arbeitsrechtsstreitigkeiten bei den Arbeitsverwaltungen geführt hat. Doch das Gesetz kam 2008 schon fast zu spät: Ein bedeutender Teil der chinesischen Arbeiterschaft war nämlich über Jahrzehnte hinweg vom allgemeinen Arbeitsrecht ausgegrenzt: Die etwa 200 bis 250 Millionen sogenannten Wanderarbeiter galten als »ländliche Arbeitskräfte« und fielen gar nicht unter das Arbeitsrecht. Hinzukommt, dass insbesondere im Bereich der Bauwirtschaft ein ausgeklügeltes und juristisch meist abgesichertes System von »Subunternehmern« besteht, das die Wahrnehmung von Rechten rein faktisch erschwert. Oft wissen die Arbeiter gar nicht, wer eigentlich ihr Arbeitgeber ist.
»Geduldet« im eigenen Land
Das neue Arbeitsvertragsgesetz erstreckt sich auch auf die Arbeitsverhältnisse von Wanderarbeitern. Doch in vielen Bereichen hat sich das noch nicht herumgesprochen und Wanderarbeiter werden weiterhin diskriminiert. Vor allem führt die Tatsache, dass sich Wanderarbeiter wegen des sogenannten Hokou-Grundsatzes in den Städten meist nicht legal aufhalten können, dazu, dass sie sich in einem quasi halblegalen Zustand befinden. Juristisch war ihr Zustand lange Zeit ähnlich dem abgelehnter Asylbewerber in Deutschland. Sie wurden maximal »geduldet«. Und dies in ihrem eigenen Land!
Doch China ist alles andere als ein einheitliches Land. Das gilt auch für die Arbeitsbedingungen und die Struktur der Arbeiterklasse. Die Situation der Arbeiter etwa in den Fabriken der Hightech-Industrie Shanghais oder Pekings ist meist eine völlig andere als etwa in der lohnintensiven Industrie Guangdongs im Süden des Landes. Zwischen dem Wanderarbeiter aus Zentralchina, der in den Küstenregionen versucht, seine Arbeitskraft zu verkaufen und dessen Kinder die öffentlichen Schulen in der Stadt nicht besuchen dürfen und andererseits den Arbeitern noch-staatlicher Betriebe in Shanghai bestehen erhebliche Unterschiede. Jene Generation, die den Transformationsprozess von der sozialistischen Ökonomie in die Marktwirtschaft unmittelbar erlebte, ist heute weitgehend aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden. An ihre Stelle sind entweder gut ausgebildete qualifizierte Facharbeiter oder aber billige Lohnsklaven aus den ländlichen Regionen oder »Praktikanten« von den Mittelschulen getreten. Es ist eine völlig neue und andere Arbeiterschaft entstanden als jene, die noch zu den Verlierern der Privatisierungswelle Anfang der 80er Jahre gehörte.
Allen gleich aber ist, dass sie kein authentisches Sprachrohr besitzen. Immer noch werden die offiziellen Gewerkschaften nicht als Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten angesehen und wahrgenommen. Und so stellt sich die Streikwelle des letzten Jahres als das dar, was Streiks auch in der Industrialisierungsphase Westeuropas waren: Keimzellen einer künftigen gewerkschaftlichen Organisation.
Schwieriger Weg zur Interessenvertretung
Der Weg dahin allerdings ist genauso schwierig, wie er im Deutschland des 19. Jahrhunderts war, denn auch dort musste die Koalitionsfreiheit erst mühsam gegen den Staat erkämpft werden: Sie war das Ergebnis der Novemberrevolution von 1918. Solange sich die staatlichen Institutionen in China gegen diese Gesetzmäßigkeit wehren und sie nicht anerkennen, kann die Entwicklung Chinas an dieser Stelle einen ähnlichen Verlauf nehmen. Noch ist nicht endgültig klar, ob auch die offiziellen Gewerkschaften ihrer Aufgabe als Interessenvertretung der arbeitenden Klasse in China gerecht werden.
Im nächsten »wochen nd«:
»China - Der Kampf um das Internet«
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