Es geht um umfassende Demokratisierung

Das Tafelsilber der Konservativen ist kein Universalschlüssel und Wirtschaftssteuerung passt nicht mit ordoliberaler Politik zusammen

  • Joachim Bischoff
  • Lesedauer: 6 Min.
Sahra Wagenknecht plädiert für einen kreativen Sozialismus. Was versteht sie darunter? »Das, was ich als ›Kreativen Sozialismus‹ entwerfe, ist natürlich kein Zurück-zur-alten-Bundesrepublik. Das kann es auch nicht sein. Aber ich finde es wichtig, dass man die Parteien, die sich auf diese Tradition berufen, vor allem die CDU, damit konfrontiert, was diese Tradition eigentlich ist. Wenn man die Losung ›Wohlstand für alle‹ heute ernst nimmt, dann muss man ja die Systemfrage stellen. Der Kapitalismus bedeutet offensichtlich nicht ›Wohlstand für alle‹, sondern er bedeutet extremen Reichtum für eine sehr kleine Oberschicht, und eine ganz brachiale Zerstörung des Wohlstandes für gesellschaftliche Mehrheiten«, so die Vize-Vorsitzende der Linksfraktion im Mai 2012 auf einer »nd«-Podiumsdiskussion in der Uni Leipzig. »Ich gehe natürlich deutlich weiter als der Ordoliberalismus, der die Grundlage der Erhard'schen Politik war. (…) Ich würde dem entgegensetzen: Nein, in bestimmten Bereichen brauchen wir gesellschaftliches Eigentum und Belegschaftseigentum, um dem entgegenzuwirken.«

»Kreativer Sozialismus« soll sich von der sozialen Marktwirtschaft abheben. Vor allem gilt es die extreme Verteilungsstruktur mit sehr reichen Haushalten und der großen verarmten Bevölkerungsmehrheit aufzuheben. Eine solche Veränderung unterstellt die Bekämpfung von Machtstrukturen in der Wirtschaft, letztlich in wesentlichen Gesellschaftsbereichen veränderte Eigentumsverhältnisse.

Diese Argumentation stößt auf Vorbehalte. Gleichwohl sollten zwei wichtige Aspekte bei der Kontroverse nicht unter den Tisch fallen: Es geht zum einen um die wesentliche Unterscheidung von Markt und Kapitalismus; zum andern um eine offene Strategiedebatte.
Wagenknecht unterstreicht: »Märkte sind nicht das Problem. Der Kapitalismus ist das Problem, die Bereicherung weniger auf Kosten der Mehrheit. Das will ich überwinden. Wo Märkte funktionieren und ihren Platz haben, erfüllen sie eine wichtige Funktion. Nichts zu suchen haben sie, wo es um elementare Güter geht wie Gesundheit, wie Bildung … Jeder Linke sollte sich die Offenheit bewahren, auch in anderen politischen und ökonomischen Konzepten Ansätze zu entdecken, die richtig und unterstützenswert sind.« Es wäre ein Fortschritt in der Debatte, wenn diese Punkte breit akzeptiert werden könnten.

Erstaunen und Widerspruch

Vor allem die Rückbesinnung auf die Tradition des Ordoliberalismus, ruft Erstaunen und Widerspruch hervor. Ulrike Herrmann hat in ihrem Beitrag im »nd« in dieser Allianz mit dem Repräsentanten der sozialen Marktwirtschaft einen tieferen Sinn gesehen. »Auch die Ordoliberalen kreisen manisch um das Eigentum. Nur dass sie es bewahren wollen, während Wagenknecht es enteignen möchte. Diese Nähe ist kein Zufall... Beiden Traditionen gemeinsam ist, dass sie mit dem Keynesianismus nichts anfangen können, der auf eine ›makroökonomische Steuerung‹ setzt. ... Es ist daher keine harmlose Pointe, wenn Wagenknecht ständig Erhard zitiert.« Schlussfolgerung: Gerade nach dem Ausbruch einer erneuten großen Weltwirtschaftskrise, die bis heute nicht überwunden ist, müssten wir uns auf eine Steuerung von Wirtschaftsprozessen verständigen: eine über den New Deal des zwanzigsten Jahrhunderts hinausgreifende demokratisch kontrollierte und gesteuerte Wirtschaftsweise.

Dieses Plädoyer für eine an Keynes orientierte Wirtschaftspolitik ist – so hat Albrecht von Lucke in der Debatte argumentiert – nicht falsch. Wesentlich sei jedoch ein anderer Aspekt: Man dürfe die politisch-strategische Frage nicht ausblenden. Und in dieser Hinsicht sei »der Versuch der Aneignung der sozialen Marktwirtschaft – über das Erhardsche Leitmotiv ›Wohlstand für alle‹ – ein Meisterstück. Schließlich handelt es sich dabei heute weniger um ein eng umrissenes ökonomisches Konzept als vielmehr um den Leitbegriff der Konservativen und dieser Republik – also gewissermaßen um das Tafelsilber der Union.« Worum es heute im Kern gehe, sei die Rückeroberung des Primats der Politik gegen die Macht der Finanzmärkte. »Solange dies der Linken mit einer eigenen sozialistischen Begrifflichkeit nicht gelingen kann – auch das ein Erbe des fatalen letzten Jahrhunderts –, ist die feindliche Übernahme des gegnerischen Leitbegriffs daher weit mehr als ein bloß kluger Schachzug.«

Aber: Kann man den Leitbegriff »Wohlstand für alle« enteignen? Diese Argumentation ist nicht überzeugend. Das Tafelsilber der Konservativen ist kein Universalschlüssel. Wirtschaftssteuerung passt nicht mit ordoliberaler Politik zusammen.

Erhards Konzeption ist gescheitert

Der »Wohlstand für alle« sollte durch Produktivitätssteigerungen und eine massive Ausweitung des gesellschaftlichem Produkts erfolgen. Erhards Wirtschaftspolitik zielte darauf, die Vorstellungen der früheren Einkommensgliederung zu überwinden. Er wollte in Übereinstimmung mit der Mehrheit der CDU »eine Wirtschaftsverfassung, die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen vermag.« Auf dem Weg über den Wettbewerb soll eine Sozialisierung des Fortschritts und des Gewinns bewirkt und dazu noch das persönliche Leistungsstreben wachgehalten werden.

Erhards Konzeption ist gescheitert. Der durch Erweiterung des gesellschaftlichen Kuchens geförderte Massenkonsum stieß in den 1960er Jahren an Grenzen. Erhard beklagte in einer Regierungserklärung 1965, dass die Gesellschaft in organisierte Gruppen zerfalle, die um möglichst hohe Anteile am Sozialprodukt und um Einfluss auf die politischen Entscheidungen des Staates stritten. Diese Überforderung von Wohlstand und Wirtschaftspotenzial wollte er durch eine »formierte Gesellschaft« überwinden. Im Prinzip begann damals die langwierige Transformation der »sozialen Marktwirtschaft«.Was wir seither erleben, ist eine neue, neoliberale Entbettung des Kapitalismus. Die politischen, sozialen und kulturellen Umbrüche der letzten Jahrzehnte bringen eine epochale Transformation des Kapitalismus zum Ausdruck. Die finanzmarktgetriebene Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse setzt die sozialstaatlichen Regulationen zunehmend außer Kraft. Löhne, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen geraten in der Logik der neuen Akkumulationsweise massiv unter Druck und erlauben keine breite Beteiligung am erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtum mehr.

Mit Deregulierung und Privatisierung wird die Tendenz zur Stärkung der leistungslosen Einkommen verstärkt. Die Abwärtsspirale der Ökonomie dreht sich schneller, wohingegen eine Demokratisierung der Wirtschaft zu einem entschiedenen Politikwechsel führen würde. Es gilt die Demokratisierung aber ausgehend vom Unternehmen auf die Verteilungsverhältnisse und die Kontrolle der Finanzmärkte zu erstrecken. Die kapitalistische Gesellschaft kann einer demokratischen Kontrolle und Steuerung unterworfen werden. Es geht also um ein komplexes Reformprogramm in kritischer Anknüpfung an die Vorzüge und Schwächen der untergehenden Lohnarbeitsgesellschaft.

Joachim Bischoff hat zahlreiche Arbeiten zur Politischen Ökonomie des Kapitalismus veröffentlicht. 2008 bis 2011 war er für die LINKE Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft. Bischoff ist Mitherausgeber der Zeitschrift»Sozialismus«.

In der Diskussion über Sahra Wagenknechts politische Aneignung einiger Begriffe von Ludwig Erhard und über die Frage, ob die Linke – nicht nur die gleichnamige Partei – die Krise theoretisch auf ausreichendem Niveau reflektiert, haben bereits Ulrike Herrmann von der »Tageszeitung« (
hier) und Albrecht von Lucke von den »Blättern für deutsche und internationale Politik« (hier) und Ingo Stützle von »analyse & kritik« (hier) ihre Positionen dargelegt. Die Debatte wird fortgesetzt.
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