Reibungen können lästig sein. Oder produktiv. Oder beides...

Interview mit Walter Mossmann, Mitbegründer der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen

  • Lesedauer: 11 Min.
Für Februar 1975 war der Baubeginn für ein neues AKW in Wyhl angesetzt. Nachdem einige Männer und Frauen mit ihren Kindern vor die Baumaschinen traten und diese zum Stillstand brachten, erfolgte die erste Räumung des Platzes durch die Polizei. Nach einer Kundgebung am 23. Februar 1975, an der rund 30000 Menschen teilnahmen, wurden die Barrikaden mit bloßen Händen überwunden. Dank der Besetzung des Bauplatzes wurde das AKW nicht gebaut. Walter Mossmann (Foto: Festival) ist einer der Mitbegründer der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen. Als »singender Egon Erwin Kisch« ist der Liedermacher und Autor vielen Linken (im Westen) noch als Barde der Anti-AKW-Bewegung bekannt. Bei Trikont sind seine gesammelten Lieder von 1964 bis 1983 auf vier CDs erschienen: »Chansons, Flugblattlieder, Balladen, Cantastorie & Apokrüfen«. Über die Anti-Atom-Bewegung, linke Biografien und die Bereitschaft, Irrtümer auch als solche anzuerkennen, sprach Ende Januar Gerhard Hanloser mit ihm.
ND: Die Anti-AKW-Bewegung hat einige symbolträchtige Orte geschaffen. Was war ausgerechnet an Wyhl das besondere?
Mossmann: Wyhl steht für mehr - es ging nicht nur um das eine Atomkraftwerk. Es gab gleichzeitig grenzüberschreitend die Mobilisierung rund um Basel gegen das geplante AKW Kaiseraugst, und natürlich die allererste Platzbesetzung in der Region, gegen ein Bleichemiewerk im elsässischen Marckolsheim, am 20. September 1974. Die wurde dann zum Modell für allerlei in Westeuropa, zunächst aber für die beiden seltsamen Erfolgsgeschichten von Wyhl und Kaiseraugst.

Sie sind 1968 in den Freiburger SDS eingetreten und begreifen sich als undogmatischer Linker. Wie sind Sie denn auf diese Umweltproblematik aufmerksam geworden?
Nach 1969 brach innerhalb der Neuen Linken eine allgemeine Verunsicherung aus. Viele von uns gerieten in die Nähe der Gruppen, die den bewaffneten Kampf aufnahmen. Ich auch, allerdings nicht in der BRD, sondern in Italien. Aber das ist eine andere Geschichte. Die so genannten K-Gruppen waren für mich nun überhaupt keine Alternative, diese Maskerade war zu albern. Zur selben Zeit begannen bei uns in der Region die ersten Auseinandersetzungen um AKW-Planungen in Breisach und Fessenheim, aber die sind mir schlicht entgangen. Im Sommer 1973 geriet ich dann ganz zufällig auf den Larzac und lernte dort eine Bewegung kennen, die hat mich fasziniert.

Der Name des südfranzösischen Hochplateaus ist heute Inbegriff für soziale Proteste von Bauern, Arbeitern und städtischen Intellektuellen, für kollektive Lebensformen und Selbstverwaltung. Was war damals das faszinierende?
Das war einmal dieses Neue Denken, die damals absolut neue ökologische Kritik am Industrialismus, und andererseits die Aktionsformen: sie waren witzig, schlagend, verblüffend, sie stellten die Polizei vor Rätsel, wenn beispielsweise die Larzac-Aktivisten eine Schafherde unterm Eiffelturm weiden ließen, um gegen den Riesenschießplatz der Armee auf den Causses zu demonstrieren. Die Flics waren vollkommen ratlos. Schäfchen kann man nicht prügeln, vor allem nicht, wenn Passanten und Touristen zuschauen. Es waren sehr kluge und poetisch veranlagte Leute, die derartige Aktionen ausheckten. Und diese Bewegung war auch seltsam grenzüberschreitend, eine eigentümliche Mischung aus Schafszüchtern, Bauern, äußerst energischen Leuten, die aus den Kolonien zurückgekommen waren, und dann natürlich die Gauchisten, Linke, vor allem aus Paris, die nun in Südfrankreich herumgeisterten und »auf der Suche« waren.

Sie jedenfalls scheinen dort etwas gefunden zu haben.
Ich kam zurück nach Freiburg und habe mit meiner Freundin zusammen als »fester Freier« beim SWF gleich zwei Features über Bürgerinitiativen gemacht - eine davon über Wyhl. Im Herbst hatte ich in Weisweil fast alle Protagonisten der folgenden zehn Jahre kennen gelernt - und von da an war ich dabei.

In dem von Ihnen mitproduzierten Wyhl-Film »s'Weschpenäschd« heißt es, den Protest hätten zuerst vier Familien angestoßen. Das waren doch wohl eher bäuerliche Familien, oder?
Nun ja. Eine dieser vier Familien war eine Lehrerfamilie, die von Jean-Jacques und Inge Rettig aus Schirmeck im Elsass. An denen ist das Jahr 1968 und der Pariser Mai auch nicht spurlos vorbeigegangen. Außerdem spielten von Anfang an kritische Wissenschaftler und Dissidenten aus der Industrie eine Rolle. Aber tatsächlich machten die Leute aus den Dörfern - Winzer, Tabakbauern, Handwerker, »Mondscheinbauern« - diese Bewegung aus, die gaben ihr eine gewisse Wucht. Für mich ließ sich die Sache sehr interessant an. Ich hatte ja jede Menge Vorurteile mitgebracht. Und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Ohne Wyhl hätten wir uns nie kennen gelernt.

Der Soziologie gelten Bewegungen wie die gegen Atomkraftwerke als »Neue Soziale Bewegungen«. Trifft der Begriff zu?
Er wäre mir nicht eingefallen. Ich würde eher von einem civil right movement sprechen wollen, von einer Bewegung, die Grundrechte verteidigt und Partizipation erkämpft. Solche Bewegungen liegen quer zu allen vertikalen Strukturen, zu Parteien, Verbänden, sie haben kein alles umfassendes Programm und keine Hierarchie. Es gibt ein gemeinsames Ziel, und um das zu erreichen, verbünden sich Leute ganz unterschiedlicher Herkunft. Da entstehen natürlich auch Reibungen, die können lästig sein, oder produktiv, oder beides. Auf jeden Fall schlagen sie Funken. So etwas interessiert mich, deshalb hat mich jetzt auch die Demokratie-Bewegung in der Ukraine begeistert. Die Demonstranten in Kiew waren doch keine Marionetten des Westens, die waren Subjekte, die wollten Gewaltenteilung und Pressefreiheit. Und die wollten das Fenster aufmachen in dieser muffigen postsowjetischen Stube.

Ging es der Umweltbewegung damals darum, das Fenster aufzumachen? Oder wollten sich die Landwirte nicht vielmehr gegenüber der modernen Welt abschließen und hinter einem bäuerlichen Konservativismus verschanzen?
Nun, alle Aktivisten aus den Dörfern haben in diesen 10 Jahren ein Leben voller Beweglichkeit, Modernität und Offenheit geführt, wie sie es sonst wahrscheinlich nie kennen gelernt hätten. Viele sind nicht nur in der BRD herumgereist, sondern in ganz Europa, manche wurden nach Japan oder in die USA eingeladen. Umgekehrt kamen Sympathisanten aus der ganzen Welt hierher, aus dem Iran, wo damals Siemens das erste AKW baute, aus Brasilien, Indianer aus Nordamerika und Aborigenes aus Australien - wirklich, ziemlich viel Welt in der Provinz! Ich glaube, man muss heute daran erinnern, dass der Widerstand gegen die Pläne der Atomindustrie zunächst kein linkes Projekt war - ganz und gar nicht. Die Traditions-Linke stand zu Beginn mehr oder weniger abseits. Aber es kamen von Anfang an Industrie-Dissidenten, zunächst unpolitische Wissenschaftler, die aus Gewissensgründen ihr Wissen nicht mehr verheimlichen wollten. Und nicht zu vergessen: Am Anfang mischten auch ziemlich viele Leute von ziemlich weit rechts außen mit. Aber sie wurden erstaunlich schnell von der Dynamik der Bewegung überrannt und marginalisiert.

Und die Linke?
Die Linke brauchte lange, um zu verstehen. Die besten Bündnispartner der Atom-Mafia waren wegen des Arbeitsplatzargumentes die Gewerkschaften. Die SPD hatte zunächst nur ein paar Alibi-Atom-Kritiker, wie Erhard Eppler. Die DKP redete mit gespaltener Zunge und behauptete ebenso dummdreist wie lächerlich, dass ein kapitalistisches AKW von Siemens schlecht sei, ein sowjetisches AKW dagegen gut. Die K-Gruppen waren zwar von Anfang an dabei, aber meistens störend, und eigenartig fixiert auf die »Bauern von Wyhl«, wo es nur fünf hauptberufliche Landwirte gab. Über die wollten die K-Grüppler »die Führung übernehmen«. Die Propagandisten der Industrie hatten natürlich schnellstens ihre Erklärungen parat: Wir seien die Reaktionäre, die Maschinenstürmer, die von vorgestern; andere boten Verschwörungstheorien an, nach denen wir von Esso bezahlt seien. Oder die alte Leier: »Ihr kommt von drüben.« Wir konnten ja nur Marionetten sein. Dazu gibt es eine aktuelle Parallele: Auch viele Linke hier zu Lande wollten die protestierenden Leute in Kiew nicht als eigenständig handelnde Subjekte erkennen, sondern nur als nützliche Idioten oder Marionetten. Dieser verschwörungstheoretische Drahtzieher-Blick, ein KGB- und CIA-Blick, kassiert den subjektiven Faktor und sieht keine handelnden Subjekte, womit man sich aber auch das Interessanteste, Wichtigste und Schönste entgehen lässt.

Was hätten aktuelle Bürgerrechtsbewegungen aus der alten, immerhin erfolgreichen Anti-AKW-Bewegung in Wyhl zu lernen?
Das Erste ist: Inhaltlich auf der Höhe der Zeit zu sein. Ökologische Kritik am Industrialismus war in den frühen 70ern das fortgeschrittenste Denken weit und breit. Anarchistisch geprägte Linke wie Noam Chomsky haben das in den USA sofort gemerkt.
Zum Zweiten: In den Kampfformen musst du das Überraschungsmoment auf deiner Seite haben - oder vergiss es! Die Platzbesetzungen, die Freundschaftshäuser, die Medien, Techniken, Symbole - alles wurde hier neu erfunden und hat zunächst funktioniert. Dann wurde dasselbe zwei, drei Jahre später in Brokdorf, Gorleben, an der Startbahn-West etc. kopiert und wiederholt - und nichts hat funktioniert. Das Neue von 1974 war 1976 schon das Alte. Wir hatten eben Glück, wir waren zufällig die ersten. In Brokdorf hatten sie schon ihre Kriminaltechniker, Psychologen und Soziologen ausschwärmen lassen, die wussten genau, was kommen wird und hatten schon alles durchgespielt. Also holte man sich an den Bauzäunen nur noch blutige Köpfe.
Und schließlich die Organisationsform: Die Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen waren keine feste Organisation, sondern ein ziemlich elastisches Netz. Das Wort »Vernetzung« war damals noch nicht im Schwange, aber wir haben so etwas praktiziert. Das ist viel stabiler, beweglicher und unbeherrschbarer als die traditionellen Formen gerade auch linker Politik. Am 25. August 1974 gab es das berühmte Treffen der 21 Gruppen aus dem Elsass und Südbaden im Gasthaus »Fischerinsel« in Weisweil. Dort haben wir nicht eine Bürgerinitiative, sondern eine Art Föderation von 21 Bürgerinitiativen gegründet. Und dabei ist es geblieben, es hat niemals einen Vorsitzenden gegeben, einen Vorstand oder irgend eine Vereinshierarchie.

Und sicher viel Streit, der doch auch blockierend wirkt.
Die Vernetzung schafft Mischungsverhältnisse, die sprengend wirken können - oder auch nicht. In Freiburg gab es fünf Gruppen, die »Aktionsgemeinschaft« eher aus Anthroposophen-Kreisen, es gab gutbürgerliche Umweltschützer, es gab aber auch ein großes K-Gruppen-Milieu an der Uni, es gab die Spontis oder »Undogmatischen« und die Feministinnen in der »Initiativgruppe KKW - Nein!«. Und es gab die »Gewaltfreie Aktion Freiburg«. Und alle diese Gruppen lernten dann mehr oder weniger, sich gegenseitig zu respektieren. Wir waren ja aufeinander angewiesen. Es gab Absprachen und auch Konflikte. Aber sie waren im Großen und Ganzen auszuhalten.

In den 80er Jahren haben die Kämpfe gegen die AKW ein anderes Gesicht angenommen. Aus den Städten und den frisch besetzten Häusern stießen nun auch Protagonisten der »autonomen Szene« zu den Bauzäunen vor. Wie war das Verhältnis der älteren Aktivisten zu dieser neuen Bewegung?
Ich selbst bin eng befreundet mit einem der theoretischen Köpfe der Autonomie, mit dem Arzt und Historiker Karl Heinz Roth. Im Freiburg der 80er Jahre traf ich dann auch bei den Wyhl-Debatten auf »Autonome«: Vollautonome und Halbautonome und halb volle - alle Sorten. Das waren durchaus die intelligentesten aus dem gesamten linken Umfeld, schien mir. Aber sie hatten sich einfach zu sehr in die revolutionäre Pose verliebt: der wilde Junge, der Molotowcocktail schmeißend aus der Masse sich herausbewegt und dann zu einem guten Filmbild erstarrt. Die Auseinandersetzungen um das Vorgehen, die Taktik und die Inhalte unserer Politik waren zuweilen knallhart. Letztendlich sagten wir: Was uns betrifft, wir wollen gewinnen. Aber ihr wollt nur schön aussehen und schön verlieren! Da gab's natürlich mächtig Krach.

Sie haben sich später, besonders im Zuge der Wiedervereinigung und den in der gerade geschluckten DDR einsetzenden Pogromen, mit Rassismus und Antisemitismus auseinander gesetzt. Einige Recherchen über Antisemitismus in der Kaiserstuhl-Region kamen dazu. Wie kam es dazu?
Antisemitismus ist für mich natürlich ein Lebensthema. Weil ich aus der Generation der Nazi-Kinder komme. Man kann auch die Entwicklung der Jahre 1967 und 1968 nicht verstehen, wenn man nicht sehen will, dass es Leute aus unserer Generation waren, die gegen das Schweigen anrannten. Es war also 1990 kein neues Thema für mich, aber es kam erneut auf. Mir schien der Zusammenhang mit dem, was Wiedervereinigung genannt wurde, klar. Wenn »Bild« damals verkündete, »Deutschland umarmt sich«, konnte ich nur fragen: »Wenn sich Deutschland umarmt, was wird dann dazwischen zerquetscht?« Dann kam es überall in Deutschland, auch im Elsass, auch am Kaiserstuhl zu Überfällen auf jüdische Friedhöfe. Also habe ich recherchiert und zum Beispiel »Ein Pfahl im Löß« publiziert.

Aber in den 70er Jahren zur Hochzeit des Anti-AKW-Kampfes gab es doch auch Antisemitismus.
Natürlich, aber - er war nicht dominant. Er gehört zur europäisch-abendländischen Kultur. Die entscheidende Frage ist immer nur: Spielt es eine Rolle, bestimmt er die Regeln? Ja, es gab ziemlich viele alte Leute, die aus der Napola kamen, und sich gern erinnerten - trotzdem, es spielte keine Rolle. Die Rechten standen ziemlich bald am Rand. Außerdem - meine große Illusion - ich dachte in den siebziger Jahren, das hätte sich nun langsam von alleine erledigt.

Ist das Thema Ökologiebewegung für Sie noch aktuell?
Oh Mann, ich hab das ein Jahrzehnt lang exzessiv gemacht. Ich wollte auf jeden Fall mal wieder was anderes machen, andere Musik spielen, andere Themen bearbeiten. Für mich war Wyhl 1982 abgeschlossen. Jetzt können andere ran.

Ein Abschied?
Nein. Aber ich wäre darauf vorbereitet, wenn ich eines Morgens in der Zeitung einen Text fände, der mir beweist, dass ich einem Irrtum aufgesessen bin. Dass unser Widerstand historisch falsch war und nur eine lästige Fußnote in der Geschichte. Die gesamte Traditionslinke hat bemerken müssen, dass sie falsch lag mit der Sowjetunion. Und die anderen mit ihrem China auch. Vielleicht geht es mir auch so mit der Frage der Atomindustrie. Kürzlich sagte mir jemand, pass auf, in der »Zeit«, da schreibt ein ganz bekannter Autor und zerpflückt eure Argumente und die Legende eurer Anti-AKW-Bewegung. Ich las also diesen Artikel, er war von Gero von Randow, und dachte: Hey, diese Sprache kennst du doch, diese Reklamesprache, blechern klappernde Propaganda. Und dann fiel mir ein, dass dieser Mensch seine Schreibkünste seinerzeit bei der DKP gelernt hat. Damals hat er jedenfalls Reklame gemacht für SED und DDR. Und jetzt wärmt er die uralten Kalauer der Atom-Mafia auf, als ob es ganz neue Einsichten wären. Na ja, dachte ich, Siemens und »Die Zeit« zahlen halt besser.
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