Eine neue Idee für Europa?

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 4 Min.
Man hört die Frage immer wieder: Was machen eigentlich die Gewerkschaften angesichts der sich zuspitzenden Krise? Warum mobilisieren DGB und Co. hierzulande nicht ebenfalls zu großen Protestaktionen? Warum soll das nur in Spanien, Italien, Frankreich, Griechenland, Portugal angezeigt und möglich sein? Und das in Zeiten, in denen sogar in Großbritannien wieder über über einen Generalstreik diskutiert wird - es wäre immerhin der erste dort seit 1926?

Vor einem halben Jahr, der Fiskalpakt war noch nicht beschlossene Sache, riefen führende Gewerkschafter dazu auf, sich der europäischen Verallgemeinerung der Schuldenbremse entgegenzustellen. Der Appell zielte auf mehr, auf eine Neubegründung Europas auf den Fundamenten von Solidarität und Demokratie. „Den Marsch in den Ruin stoppen!", lautete eine Forderung, dazu sei „eine europäische soziale Bürgerbewegung" nötig, „die gegen die desaströse Krisenpolitik und für einen radikalen Politik- und Pfadwechsel antritt". Zu den Unterzeichnern zählten neben den Vorsitzenden einiger Gewerkschaften und des DGB auch linke Intellektuelle wie Elmar Altvater, Rudolf Hickel und Frieder Otto Wolf.

„Sie könnten doch einfach etwas tun, statt sich selbst dazu aufzufordern", war IG-Metall-Vorstand Hans-Jürgen Urban seinerzeit gefragt worden, und hatte geantwortet: „Wir beteiligen uns auch an Protesten. Bevor wir aber selbst zu Aktionen mobilisieren, müssen die Gewerkschaften die Debatte über ihre Antworten auf die Krise zu Ende führen." Wenn es gelingen solle, „einen politischen Pfadwechsel" durchzusetzen, „brauchen wir Mehrheiten. Natürlich auch in den Gewerkschaften".

Mitte November findet nun in Essen eine Konferenz statt, die nach solchen Antworten und „Wegen aus der europäischen Krise" suchen will. Mit der europäischen Einigung würden immer mehr Menschen „Staatsschulden, Sozialabbau und Bürokratie" verbinden, in der EU seien durch „einseitig auf Geldwertstabilität fixierte Euro-Konstruktion und verfehlte Schulden- und Defizitkriterien, durch falsche wirtschaftspolitische Koordinierung und die sträfliche Vernachlässigung der Sozialunion wurden die Weichen falsch gestellt" worden. Deshalb brauche der Einigungsprozess „eine neue identitätsstiftende Leitidee".

Einen Vorschlag für einen „Gesellschaftsentwurf Europa" wird auf der Konferenz der Sozialphilosoph Oskar Negt präsentieren. Sein "Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen" ist in diesem Sommer im Steidl-Verlag als Streitschrift erschienen und könnte als linke Antwort des Hannoveraner Emeritus (oder als eine Ergänzung?) auf Jürgen Habermas' europäisches Programm gelesen werden - etwa niedergelegt in einem im November 2011 erschienen Essay zur Verfassung Europas oder, gemeinsam mit Julian Nida-Rümelin sowie Peter Bofinger im August in der "Frankfurter Allgemeinen" formuliert.

In Essen wird auch Hans-Jürgen Urban dabei sein und mit dem Juristen Andreas Fisahn, der linken Sozialdemokratin Andrea Ypsilanti und der Sozialforscherin Sonja Buckel über „Strategien und Wege zu einem demokratischen und sozialen Europa" diskutieren. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, welche Rolle die europäischen Institutionen dabei einnehmen - und welche zivilgesellschaftliche Akteure, Gewerkschaften und soziale Bewegungen?

Den Blick ins Ausland und auf Beispiele anderer politischer Akteure einer gesellschaftlichen Linken wirft eine Gesprächsrunde: Der Syriza-Mitarbeiter Theodoros Paraskevopoulos, Elisabeth Gautier von transform! diskutieren dann mit dem Politologen und Schriftsteller Raul Zelik über die „Maßnahmen und Instrumente", welche andere zum Teil bereits in die Hände genommen haben. Während hierzulande vor allem im Gewerkschaftslager noch darüber diskutiert wird und die kommende Bundestagswahl bereits einen Schatten voraus wirft, in dem außerparlamentarische, zivilgesellschaftliche Bewegungsmomente anders wirken können als ohne diese Hintergrund.

Die Frage wird man dennoch noch öfter hören: Können die Gewerkschaften nicht mehr machen als Konferenzen? „Spontane Aktionen" seien „keine ausreichende Antwort", hatte Hans-Jürgen Urban vor einem halben Jahr darauf geantwortet. „Wir brauchen Alternativen, wir brauchen dafür Mehrheiten in der europäischen Öffentlichkeit, und wir brauchen eine realistische Perspektive für die praktische Durchsetzung." Die Konferenz in Essen, die mehr ist als eine Veranstaltung von DGB-Organisationen, könnte dafür einen kleinen Beitrag leisten. Die neuen Konjunkturzahlen, die an diesem Donnerstag die politische Diskussion mitbestimmen werden, dürften diese Diskussion zusätzlich befeuern.

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