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Freundlichkeit ... und Abgründe

Andreas Dresen über Gelassenheit, Sisyphos und Machtgefühle

  • Lesedauer: 18 Min.
Vor wenigen Tagen wurde vermeldet: Der »Regine-Hildebrandt-Preis« der SPD geht in diesem Jahr an zwei sozial-politische Initiativen und an - Andreas Dresen. Er ist der in West wie Ost wohl gleichermaßen bekannteste und erfolgreichste Filmregisseur Deutschlands. Immer wieder ergreifend: der Einbruch von Natürlichkeit in den Kunstbetrieb. Als sei das einander wesensfremd. Bei Dresen nicht. Man merkt es im Gespräch, und auch daran: Bei Preisverleihungen freut sich niemand so nahezu familiär wie die jeweilige Dresen-Truppe. Zu der Kameramann Andreas Höfer, Autorin Laila Stieler, Produzent Peter Rommel zählen, Schauspieler wie Axel Prahl, Thorsten Merten, Milan Peschel, Henry Hübchen, Steffi Kühnert, Ursula Werner, Nadja Uhl.

nd: Andreas Dresen, wo bewahren Sie Ihren Bundesfilmpreis auf?
Dresen: Warum diese Frage?

Weil Sie mal gesagt haben, Ihre Auszeichnungen lägen zu Hause - und zwar dort, wo auch das alte »Abzeichen für gutes Wissen« aus DDR-Zeiten liegt.
Klingt, da ich es jetzt aus fremdem Munde höre, ziemlich kokett.

Klingt aber auch uneitel.
Preise sind etwas sehr Schönes. Aber es hilft im Leben ja nur Arbeit, nicht: gearbeitet zu haben. So, wie einem Schriftsteller nur hilft, zu schreiben, nicht: geschrieben zu haben. Ein Preis schafft Zuwendung, aber er hilft nicht, wenn für den nächsten Film die nächste Stunde Null kommt.

Wo also steht der Bundesfilmpreis?
Die Statuette steht im Schneideraum. Sie ist einer der wenigen Preise, die ganz gut aussehen. Einige Preise habe ich ans Filmmuseum gegeben, auch den Silbernen Bären der »Berlinale«. Ich hatte das alles eine Zeit lang in einer Ecke stehen, bei mir im Schlafzimmer. Aber dann wurde mir das zu viel.

Schön, wenn einer sagen kann: Die Preise wurden mir zu viel.
Es waren nicht zu viele Preise, es war mir schlichtweg zu chaotisch. Unordnung darf sein, nur darf sie nicht herrschen. Manchmal braucht es Klarheit.

Die Linkspartei hat Sie als Verfassungsrichter für Brandenburg vorgeschlagen. Was reizt Sie daran? Und was lässt Sie zögern?
Zuerst habe ich mich erschrocken. Aber dann dachte ich an Brechts »Kreidekreis« und den Dorfrichter Azdak, der ja auch nie Jura studiert hat und trotzdem weise urteilt. Ich bin ein neugieriger Mensch, und es ist eine schöne Möglichkeit, sich ins Gemeinwesen einzubringen. Gezögert habe ich wegen der Arbeitsbelastung, ich möchte ja weiter Filme drehen. Aber es ist zeitlich eine überschaubare Aufgabe.

Fürchten Sie Beeinträchtigungen Ihrer künstlerischen Unabhängigkeit?
Warum sollte ich? Die Kollegen im Gericht werden mir nicht in meine Arbeit reinreden und die politischen Parteien schon gar nicht. Ich stelle mir die Arbeit im Gericht eher bereichernd vor. Es ist eine andere, reizvolle Perspektive im Hin-Blick auf das Leben im Land.

Politik geriet in Verruf. Just in solcher Situation haben Sie einen Fortsetzungsfilm über einen Politiker gedreht, »Herr Wichmann aus der dritten Reihe«. Ein Sisyphos der brandenburgischen Kommunalpolitik.
Wenn Sie von Sisyphos sprechen, bestätigt mich das. Camus sagte ja, man müsse sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.

Was heißt das für Sie?
Dass Leben größtenteils bedeutet, sich auf kleinem Terrain abzustrampeln, mit geringen Spielräumen auszukommen. Es heißt, vielleicht ein großes Ziel zu haben, jedoch zu wissen, dass die schönsten, höchsten Ziele uns übersteigen, uns überfordern, sie nie erreicht werden. Aber jeder Meter des Steineschleppens trägt auch die Hoffnung einen Meter weiter. Bis zum nächsten Scheitern - das wieder einen Anfang bedeutet.

Dieser Film erinnert mich an eine Gedichtzeile Ihres Vaters Adolf Dresen: »Grau blühen die Rosen«.
Wenn man entdeckt hat, dass im Grau alle Farben wohnen, aber dass alle Farben auch ein Grau enthalten, dann lebt man freier. Wir alle sind letztlich lauter Wichmänner.

Was ist für Sie Demokratie?
Friedlicher, offener Interessenstreit. So eine Art Psychotraining, bei dem diejenigen, die bei einer Entscheidung das Nachsehen haben, mit der Lust versorgt werden, bei der nächsten Entscheidung wieder aktiv mitzureden. Jede Mehrheitsentscheidung beendet einen Optionenstreit - eröffnet aber zahlreiche neue Optionen. Die sind wie ein Berg, darin der Kompromiss verborgen liegt, der immer neu gefunden werden muss.

Lässt sich künstlerische Arbeit auch auf diesen Nenner bringen?
Meine alltägliche Arbeit besteht ebenfalls aus vielen winzigen Schritten, aus Verzweiflungen, neuen Überlegungen, Euphorien, Abstürzen.

Sind Sie ein gelassener Mensch?
Gelassenheit ist das schönste Lernziel - man muss vor allem lernen, sie nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln. Ohne Ehrgeiz geht nichts, aber bei immer mehr Prozessen im Leben und in der Arbeit habe ich das Gefühl, sie haben gar nicht so sehr etwas mit mir zu tun.

Wir leben nicht, wir werden gelebt?
Nein, so absolut stimmt das nicht! Aber so, wie wir Dinge beeinflussen, werden auch wir beeinflusst von vielen Dingen. Ein Wechselspiel, bei dem man auch mal zulassen muss, was einem so geschieht. Man kann mächtig unglücklich werden im Mühen, alles um sich herum zu steuern. Es ist doch aber wie in der Liebe, da kann ich auch nicht mit festem Vorsatz auf die Straße gehen: Heute muss es passieren! Das Gelingen, gerade in der Kunst, ist keine mathematisch ausrechenbare Größe. Die schönsten Dinge passieren im Vorbeigehen. Und oft ohne das eigene Zutun. Was nicht heißt, man müsse fürs Gelingen nicht arbeiten. Die Arbeit besteht darin, einen Raum zu schaffen, ein Klima zu produzieren, in dem Gelingen möglich wird. Herbeigezwungen werden kann nichts.

Wann entschied sich, dass es der Film sein müsse, der Ihr Leben bestimmt? Als Sie eine Schmalfilmkamera geschenkt bekamen?
Die Schmalfilmkamera bekam ich von meinem Vater, eine alte AK 8, ich besitze sie noch. Ich glaube, da könnte ein Panzer drüberfahren - sie würde weiter funktionieren. Ich bekam sie jedoch ohne jeden Hintergedanken meines Vaters, mich auf diese Weise für den Beruf des Regisseurs oder Kameramannes zu interessieren. Er hatte wohl eher den Traum, seinen Sohn als Naturwissenschaftler zu sehen.

Adolf Dresens eigener unerfüllter Traum?
Er liebte das Mathematische, die Astronomie. Das Sternegucken bestimmte später seine Freizeit als Theatermann. Also, mit dem Geschenk der Schmalfilmkamera hat er im Grunde einen Fehler gemacht, mich nämlich weggelockt von den Fächern der forschenden Vernunft. Ende der siebziger Jahre drehte ich mit Freunden kleine Filmchen, in der Art des satirischen DEFA-»Stacheltiers«.

Wovon handelte Ihr erster Film?
Es war eine winzige Stummfilmklamotte übers Schicksal des DDR-Bürgers, in Gaststätten »platziert« zu werden. Gezeigt haben wir diese Filme in Jugendklubs, in der Schule. Wir merkten, dass die Resonanz gut war und zu Diskussionen führte. Ich habe dann Brigitte Reimanns Roman »Franziska Linkerhand« gelesen und drehte einen Film über Neubaugebiete. Mählich begann ich, mich über das Medium politisch zu artikulieren - diese Möglichkeit war wohl die Initialzündung, mich an der Filmhochschule zu bewerben.

Hat es Sie je gestört, als Regisseur so sehr abhängig zu sein? Von anderen Köpfen, von Technik, von so vielen Faktoren.
Es kann nerven, aber meistens ist das, was Sie aufzählen, ein Gewinn. Ich bin grundsätzlich ein eher ängstlicher, vorsichtiger Mensch. Das hat zur Folge, dass ich mich für jeden Dreh, für jede Probe sehr genau vorbereite. Aber wenn ich mich zu eng an meine Konzepte halte und keinerlei störende Einflüsse zulasse, sieht Vieles sehr brav und sehr gezirkelt aus - alles am Ergebnis hat dann zwar seine innere Logik, doch es fehlt irgendwie das Feuer. Mehreren meiner Filme in den neunziger Jahren merkt man diesen Makel an. Deshalb ließ ich mehr und mehr Improvisationen zu, die vor allem eine Prüfung für mich selber waren: Ich suchte sozusagen etwas, das mich trotz aller Sorgfalt in die Unsicherheit trieb, in die Gefahr des Offenen. Ich musste mich selber mit Anarchie und Chaos konfrontieren, um mich neu zu finden. Der Kulminationspunkt dessen war »Halbe Treppe«. Die Methodik wurde dann bei »Wolke 9« und bei »Halt auf freier Strecke« verfeinert.

Filmen als Freude an gemeinsamen atmosphärischen Schwingungen.
Es kann eine große Qualität sein, wenn man unterwegs ist mit Leuten, die sich gut verstehen, einander die Bälle zuwerfen, und wo der eine ausgleicht, was dem anderen gerade fehlt. Wolfgang Kohlhaase hat das mal sehr schön gesagt: Um einen guten Film zu machen, muss mehr als ein Mensch mehr als nur einen guten Tag haben.

Sind Sie manchmal überrascht, wie Sie Leute lenken können?
Ich habe nicht diese Machtgefühle.

Wird man als Regisseur mit der Zeit selbstsicherer?
Ich gehe immer mit Ängsten zur Probe.

Immer?
Vielleicht ist Angst das falsche Wort. Sagen wir: mit Spannung. Wenn eine Filmarbeit beginnt, kann ich schlecht schlafen, esse kaum, bin von innerer Unruhe getrieben. Ich fühle mich wie jemand, der zu Unrecht auf dem Regieplatz steht. Ich denke manchmal: Hoffentlich merkt niemand, dass ich von der ganzen Sache keine Ahnung habe. Dann kommt man an den Drehort, sieht in die Gesichter und bemerkt, dass auch in deren Augen die Angst flackert - und dann hilft man einander.

Befehlen Sie am Set?
Ich unterspiele eher. Ich würde nie zu einem Schauspieler sagen: Du, die Szene, die wir heute drehen, die ist besonders wichtig für den ganzen Film, denk bitte dran!

Sondern?
Ich würde eher sagen. Ach, komm, es ist scheißegal - wenn wir's heute nicht gut machen, versuchen wir's morgen, und wenn wir es morgen nicht schaffen, dann sind wir eben zu doof. Es gibt Regisseure, die arbeiten mit Druck, und sie arbeiten verdammt gut und erfolgreich. Aber für mich wäre das nichts. Ich brauche für den Produktionsprozess die Möglichkeit, mich auch laut und öffentlich irren zu dürfen. Ein Schriftsteller oder Maler ist mit seinen Fehlern allein, ich begehe sie vor vielen Menschen. Das kann peinlich sein, aber Vertuschungsversuche wären noch peinlicher, also muss man zurückrudern können. Es gibt ein altes Wort für Regisseur, das mag ich sehr, es lautet: Spielleiter. In dem Begriff steckt Spiel, es ist darin nicht dieser heilige Ernst von Kunst, den die andere Bezeichnung, Regisseur, so umweht. Der Spielleiter ist derjenige, der ein paar Regeln festlegt, weil ein Spiel ohne Regeln nicht funktioniert. Spielen wir also! Mein Gott, von einem misslungenen Film geht doch die Welt nicht unter!

Sie haben gesagt, Sie würden gern boshafter sein in Ihrer Kunst.
Boshafter nicht. Radikaler. Ich bewundere Luis Bunuel. Seine Filme reiten harte gesellschaftliche Attacken, gleichzeitig ist er ein liebender Erzähler. Er findet bitterböseste Wendungen, ohne seine Figuren preiszugeben. Ja, im Blick auf die nicht sehr freundliche Welt, in der wir leben, würde ich gern härtere Filme drehen.

Der Mensch entkommt aber seinem Naturell nicht.
Klar, ich auch nicht. Ich kam behütet in die Welt, ich bin behütet durch die Welt geleitet worden.

Das hat Konsequenzen?
Ja, und ich verfechte mit ganzem Herzen den Mut zur Freundlichkeit. Aber er steht gegen eine soziale Welt der Risse, man darf da - so wie die Dinge stehen - nicht leichtfertig einen falschen Optimismus verbreiten. Ich habe in einigen Filmen nicht immer tief genug in den Abgrund geschaut.

Das Sterben, der Tod, das Weiterleben der Anderen sind die Themen Ihres Films »Halt auf freier Strecke«. Sie haben gesagt, Sie hätten bei dem Film eines begriffen: dass es etwas Gutes sei, den Schmerz an sich heranzulassen. Kam diese Erkenntnis wirklich erst mit diesem Film?
Das wahrscheinlich einzige große Motiv für Schreiben, Filmen, Malen, Singen besteht in dem Versuch, das Sterben zu überlisten, das Sterben von Kräften, Hoffnungen, Zielen, Ansprüchen, Beziehungen. Letztlich, am bittersten, am schmerzhaftesten, am ungerechtesten, am grausamsten: das Sterben naher Menschen. Diesem Thema war ich in noch keinem meiner Filme so unerbittlich nah. Ich habe dem Team gesagt: Wir erzählen eine Geschichte, aber in gewisser Weise wird es eine Reise zu uns selbst sein, wir müssen alles schier Unerträgliche durch uns hindurchlassen. Es gab Phasen, gerade bei der Recherche in nackter schlimmer Realität, da wurde alles unglaublich schwer, und ich habe mich manchmal verriegelt und verrammelt gegen Eindrücke und Wahrnehmungen.

Am Ende dann aber ein kathartischer Effekt?
Ja, ich kam wie gereinigt aus dem eigenen Film. Das klingt jetzt bestimmt ein bisschen pathetisch, es war aber so.

Sie haben den Film erstmals in Cannes gezeigt.
Nicht nur gezeigt, ich sah ihn dort selber zum ersten Mal auf einer Leinwand - erst zwei Tage vorher war er fertig geworden, und plötzlich sitzen da 1200 Leute aus aller Welt. Eine Stille im Saal, man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören. Dazwischen immer wieder vereinzeltes Schluchzen. Das war ein unglaublicher Moment, und danach schaute ich in erschütterte Gesichter. Seit diesem Film denke ich, in Abständen, anders über das Leben. Es ist so verletzlich, so brüchig, es genügt ein dämlicher Zufall, eine unglückliche Fügung - und aus! Nichts ist von Bestand. Aber es gibt doch eine einzige mögliche Dauer: die Feier aller Flüchtigkeiten, den bewussten Genuss von profanen Dingen, die sich zu Großem aneinanderreihen lassen, also: die Umwertung dessen, was uns nervt, in einen positiven Sinn.

Das kann nicht immer gelingen.
Es kann aber öfter gelingen, als man gemeinhin annimmt. Im Umweltschutz etwa: Wir entwickeln alle Widerstandskraft aus der Überbetonung der Sorge. Es ist die katastrophische Ahnung, die uns notgedrungen vernünftig macht. Warum entwickeln wir Widerstand nicht aus dem Gegenteil: der Freude am Wunder Leben, dem Staunen über das Wunder Erde?! Wir waren mit »Halt auf freier Strecke« in den USA. Viele Publikumsgespräche. Überall die erste Meinungsäußerung: Das sei doch ein realistischer Film - wieso könne es dann sein, dass Ärzte zu einer gewöhnlichen Mittelklasse-Familie nach Hause kommen? Das sei doch unbezahlbar. Wie gesagt: in jeder Stadt diese Frage. Und dann jedes Mal eine heftige Debatte, weil die US-Amerikaner einfach nicht dieses utopisch anmutende deutsche Krankenversicherungssystem begreifen konnten. Also nicht begreifen konnten, dass man zu Hause sterben kann und dabei auch noch medizinisch versorgt wird. Ich gehöre bestimmt nicht zu den Apologeten des Bestehenden im Westen, aber ein Gefühl für gesellschaftliche, soziale Errungenschaften in diesem Deutschland bekommt man in solchen Augenblicken durchaus. Ich bin gegen die Erniedrigung durch Hartz IV, aber ich bin, beim Blick in die Welt, doch entschieden wacher geworden für soziale Leistungen, die hierzulande bestehen.

Sie wohnen in Potsdam, in der Nähe des Parkes von Sanssouci.
Ja, und schon bleiben wir beim Thema, bei den schönen Dingen des Lebens. Ich kann hier joggen, ist doch wunderbar. Ich bin kein Freund gestutzter Parks, aber morgens ist die Gegend herrlich leer, und man sieht im Laufe des Jahres, wie sich die Natur verändert. Das ist was Tolles und trägt zum Seelenfrieden bei.

Was heißt Seelenfrieden in künstlerischer Hinsicht?
Nicht vom Zwang zerfressen zu werden, ständig ein Meisterwerk zu schaffen. Einfach nur: einen nächsten Film drehen, der Spaß bereitet. Gemäß des Satzes: Man solle jeden Tag so leben, als ob es der letzte wäre - denn irgendwann kommt leider der Tag, an dem man damit Recht hat.

Bei westdeutschen Regisseuren heißt es: deutsche Regisseure. Aber Sie gelten als ostdeutscher Regisseur.
Dagegen habe ich nichts, ich bin sogar stolz darauf. Lieber kenntlich als verschwommen.

Was wäre aus Ihnen geworden, wenn die DDR weiter existiert hätte? Waren Sie an der Filmhochschule ein oppositionell Denkender?
Oppositionell - das ist ein so großes Wort. Zu groß.

Sagen wir: Eigensinn.
Ja, Eigensinn würde ich mir zubilligen.

Sie drehten als Student einen Dokumentarfilm über die NVA.
Das Wichtigste vorweg: Wir hatten an der Schule Lothar Bisky als Rektor. Ein Segen für die meisten Studenten. Wir lieben ihn bis heute dafür, dass er uns durch dieses Studium brachte. Ich denke nicht, besonders mutig gewesen zu sein, und es ist einfach, hinter einem schützenden Charakter das Maul aufzureißen. Es war Bisky, der uns kritische Filme ermöglichte, er forderte uns geradezu auf, solche Arbeiten vorzulegen. Und weil die Filmhochschule keine Insel der Seligen war, sondern eine von SED und Stasi und Dogmatik sehr konkret berührte Institution, gab es dementsprechenden Ärger. Wir arbeiteten, und Bisky war unser breites Kreuz.

Sie drehten also diesen 20-minütigen Dokfilm über einen frisch einberufenen NVA-Soldaten.
Wahrlich kein Lobgesang. Ich zeigte nicht die Vereidigung, sondern nur das Training dafür: blödsinniger, entwürdigender Drill. Es ging den Befehlenden einzig um Lautstärke, nicht um Inhalte. Das war ein Film, der sich sehr wohl von dem unterschied, was das Armeefilmstudio so anbot, ich kann trotzdem nicht behaupten, an die Grenze des Erlaubten gegangen zu sein.

Aber deutlich wurde: NVA ist - wie jede Armee - Stupidität und Geistlosigkeit.
Es gab eine Weihnachtsfeier, bei der ein junger Unterleutnant versuchte, den traurig versammelten Soldaten zu erklären, wozu sie geladen seien: So, liebe Genossen des Stabes, der Heiligabend ist ran, wir verbringen den in diesem vertrauten Kreis, unsere FDJ-Leitung hat sich Gedanken gemacht, wie wir das am besten über die Runden kriegen - und dann schaute die Kamera in diese bemitleidenswerten, abgeschalteten Gesichter, jeder vor sich eine Club-Cola, die genauso trübsinnig »guckte«.

Der Film lief 1988 beim Nationalen Dokumentarfilmfestival in Neubrandenburg!
Das war das Erstaunliche! Die NVA genehmigte den Film. Allerdings geriet er in Neubrandenburg zum Skandal. Ich wurde beschimpft und bezichtigt, wehrkraftzersetzend zu sein. Lothar Bisky hat den Film dann trotzdem immer weiter zeigen lassen, er wollte ihn sogar zur Dokfilmwoche nach Leipzig anmelden, es war einer von zehn Filmen unseres Studienjahres. Einer porträtierte einen Punker, der in den Westen wollte. Ein anderer Film erzählte von zwei Freundinnen, die eine in der FDJ, die andere Christin. Ein Bündel Kritik gewissermaßen, DDR-Bilder jenseits dessen, was sich die SED-Treuen noch immer unter »ihrer« Republik vorstellten - die doch längst an Langeweile und Unattraktivität wie an einem Krebs litt. Das merkten nur die nicht, die beständig in einem rotlackierten Elfenbeinturm lebten. Bisky sagte: Ich bringe alle eure Filme nach Leipzig! Und ich dachte: Wenn ihm das gelingt, ist er die längste Zeit Rektor gewesen. Also zogen wir unseren NVA-Film zurück, wir haben Bisky sozusagen entbunden, haben uns der Nominierung verweigert - weil wir ihn nicht als Rektor verlieren wollten. Ein paar der anderen Filme sind dann immerhin gelaufen.

Einer Ihrer Dokumentarfilme damals hieß »Jenseits von Klein Wanzleben«.
Wir begleiteten eine Freundschaftsbrigade der FDJ in Simbabwe. Das war ein Hochschulauftrag, im April 1989. Wir drehten mit dem gleichen Team, das den Armeefilm produziert hatte. Da waren wir eben erst unangenehm aufgefallen, und dann schickt Bisky diese gleiche Truppe mit teurer Technik in ein Ausland, von wo wir leicht hätten abhauen können. Aber so ein Vertrauen missbraucht man nicht.

Und der Film selber?
Drei Männer, drei Frauen, drei Kinder im Busch: Die hatten die DDR mitgenommen. Ich stand dort vor einer Schrankwand, als filmte ich in Hellersdorf. Der Film geriet zur Illustration des Satzes: Man kann einen Mann aus dem Land nehmen, aber nicht das Land aus dem Mann. Ich sah mich in dieser Schrankwand quasi selber und war ziemlich erschrocken.

Hat Ihnen Lothar Bisky später manchmal leid getan - wie er sich da verschliss in der angeblich großen Politik?
Klar! Ein so großartiger Mensch, er hatte es nicht verdient, sich so vernutzen zu lassen in politischen Grabenkämpfen. Dieser Mann ist so viel mutiger gewesen als die meisten Leute, die da im Bundestag sitzen und ihn fies angingen.

Weshalb sind Sie nie in den Westen gegangen?
Es ist doch letztendlich egal, wo man lebt, es ist nur entscheidend, wie man lebt. Nicht, dass ich mit der Welt, in der wir jetzt leben, glücklich wäre - aber anderswo ist es nicht besser, sondern bloß anders.

Ihr Vater hat in einem seiner poetischen Texte geschrieben: Erreichen wird nur etwas, wer nichts vorhat.
Ja, man geht nicht suchen, man geht finden.

Ein Interview von Hans-Dieter Schütt


Andreas Dresen
Geboren wurde Andreas Dresen 1963 in Gera. Er ist der Sohn der Schauspielerin Barbara Bachmann und des Theaterregisseurs Adolf Dresen. Er wuchs in Schwerin auf, nennt sein Leben undramatisch, wenn man »vom Drama eines Scheidungskindes« absieht. Quasi sein zweiter Vater wurde der Theaterregisseur Christoph Schroth.

Dresen studierte 1986 bis 1991 an der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« in Potsdam-Babelsberg. Filme u.a.: »Stilles Land«, »Das andere Leben des Herrn Kreins«, »Die Polizistin«, »Nachtgestalten«, »Halbe Treppe«, »Sommer vorm Balkon«, »Willenbrock«, »Wolke 9«, »Whisky mit Soda«, »Halt auf freier Strecke«. Theaterarbeiten in Basel, Leipzig, Cottbus, am Deutschen Theater Berlin.

Zu den Stoffen, an denen er gerade arbeitet, gehört die Geschichte des Sängers Gerhard Gundermann. Arbeiter, Genosse, Querulant, Armist, Stasi, Täter, Opfer, Träumer - schier alles, was die DDR ausmachte. »Was Leben generell ausmacht: Kampf und Kompromiss - und Spannung zwischen beidem«.

Adolf Dresen
1935 in Eggesin/Vorpommern geboren, war einer der bekanntesten deutschen Schauspiel- und Opernregisseure. 1964 bis 1977 am Deutschen Theater Berlin (u.a. »Faust«, Regie gemeinsam mit Wolfgang Heinz, »Clavigo«, »Juno und der Pfau«, »Michael Kohlhaas«). 1976 Ausschluss aus der SED. 1977 Übersiedlung in den Westen. Burgtheater Wien. Direktor des Schauspiels Frankfurt am Main. Freier Regisseur (u.a. Brüssel, Hamburg, Wien, Paris, Antwerpen, London). 2001 Tod in Leipzig.


Adolf Dresen: Für den kleinen Andreas, als er einmal viel Pech hatte

Am Stock, damit sie stehen kann,
Bindt Andi seine Blume an.
Die Winde Winde wehen,
Die Blume will nicht stehen,
Und eh ihre eine Blüte glückt,
Ist sie geknickt und abgepflückt.

Doch was sind das für Faxen?
Der Stock fängt an zu wachsen,
Der Stock will Stock nicht bleiben,
Will selber Blätter treiben,
Stolz trägt er eines Tags als Strauch
Nun selber eine Blüte auch.

So kommt verflixt und hinterrücks
Doch noch der Augenblick des Glücks.

Entnommen dem Band »Adolf Dresen: Wieviel Freiheit braucht die Kunst? Reden Briefe Verse Spiele«. Hrsg. von Maik Hamburger, Essay von Friedrich Dieckmann. Verlag Theater der Zeit (Recherchen 3) 2000

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