100 Prozent Aufregung
Tom Strohschneider über einen Steuervorschlag der Linkspartei
Man kann sagen: Das ist nicht besonders gut gelaufen. Seit ein paar Tagen schon kursierte so etwas wie der fragmentarische Vorentwurf für das Wahlprogramm der Linkspartei, Zeitungen nahmen das zum Anlass für Berichterstattung - und die „Mitteldeutsche“ machte eine Schlagzeile daraus: „Linke will 100-Prozent-Steuer für Spitzengehälter“. Gar nicht wahr, dementierte die Partei, verwies darauf, was tatsächlich in dem Papier stehe - getrieben von einer Berichterstattung, die so falsch nun auch wieder nicht war.
Inzwischen kann jeder nachlesen, was am Ende der Seite 24 des Rohentwurfs steht: die Forderung nach einer Obergrenze von Einkommen. Freundlich interpretiert geht es hier vor allem um Managergehälter, realistisch betrachtet steht diese Passage aber erstens im Kapitel zur Umverteilung und deshalb zweitens doch ein wenig in Widerspruch zu den Steuerzielen der Partei. Denn wie sollen Einkommen über einer Million Euro im Jahr noch mit 75 Prozent belegt werden, wie es auf Seite 23 heißt, wenn die jährliche Obergrenze für Gehälter bei 480.000 Euro liegt? Nun ist es freilich so, dass noch andere Einkommensarten ins Spiel kommen könnten. Aber ein Wahlprogramm sollte nicht zuallererst dazu einladen, über die logische Konsistenz der Forderungen nachzudenken.
Das ist das eine. Das andere ist die Aufregung, mit der in der Öffentlichkeit auf der Idee einer 100-Prozent-Steuer herumgeritten wird. Von „DDR-Enteignungspolitik“ war da die empörte Rede; davon, dass die Linkspartei nunmehr in „Richtung Bedeutungslosigkeit“ taumele, dass sie sich „für den Utopismus entschieden“ habe. „Um ihre politischen Ziele zu erreichen, schreckt die Linke auch vor radikalen Schritten nicht zurück“, wurde an anderer Stelle gewarnt. Und das wäre doch gar nicht so falsch.
Es ist völlig in Ordnung und wahrlich nicht revolutionär, die Rückkehr zu einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent zu verlangen, wie er zu Zeiten der Kanzlerschaft von Helmut Kohl galt. Es ist völlig in Ordnung, für jeden Euro Einkommen über eine Million Euro pro Jahr hinaus eine Reichensteuer von 75 Prozent zu fordern. Und ja: Es gibt auch keinen Grund, sich wegen des medialen Echos ängstlich eine Diskussion darüber zu versagen, ob und warum es geboten sein könnte, wenn eine Gesellschaft sich darauf verständigt, ab einem bestimmten Punkt Supereinkommen zu 100 Prozent zu besteuern. Katja Kipping hat den Zusammenhang, der jetzt dementiert wird, übrigens selbst im vergangenen Sommer hergestellt: „Kein Mensch braucht mehr als das Vierzigfache des Mindesteinkommens. Alles was darüber liegt, kann man getrost mit 100 Prozent besteuern.“
Kann man? Man kann jedenfalls darüber diskutieren. Und das hat weder etwas mit DDR-Denken noch mit Bedeutungslosigkeit zu tun. Niemand müsse mehr als 25.000 Dollar im Jahr verdienen, meinte zum Beispiel 1942 der US-Präsident Franklin D. Roosevelt – das wären nach Rechnung des französischen Volkswirtes Jean Gadrey heute etwa 315.000 Dollar im Jahr. In der Schweiz startete vor ein paar Jahre der linke Nationalrat Josef Zisyadis eine Initiative für ein Höchsteinkommen von Netto 35.000 Franken im Monat. Der österreichische Zukunftsforscher Hans Holzinger fragte schon vor über einem Jahr, warum es eigentlich nur ein Mindestlohn, und nicht auch ein Maximalsalär geben sollte. Und schon 1880 (!) meinte der Sozialphilosoph Felix Adler, dass riesige Privatvermögen einen „korrumpierenden Einfluss“ auf das politische Leben hätten, wogegen er eine stark progressive Einkommensteuer vorschlug, die bis auf 100 Prozent ansteigen sollte.
Wenn nun auch aus der Linkspartei heraus auf mögliche verfassungsrechtliche Grenzen verwiesen wird, dann ist das ein Argument, über das gesprochen werden muss. Genauso wie darüber, dass niemand von „Enteignung“ spricht, wenn Menschen, die von Sozialtransfers leben, erst einmal ihr Erspartes verbrauchen müssen, bevor sie in den „Genuss“ einer staatlichen Zahlung kommen, die zu einem Leben in voller Teilhabe nicht einmal reicht. Zu reden wäre auch darüber, welcher Leistungsbegriff in Stellung gebracht wird, um völlig irreale Einkommen zu legitimieren, die worauf basieren? Genau: auf Enteignung, denn bezahlt werden die Superverdiener aus Werten, die andere mit ihrer Hände und Köpfe Arbeit geschaffen haben, nur dass sie davon lediglich einen kleinen Teil als ihren Lohn oder ihr Gehalt beziehen. Mit anderen Worten: Erst in ihrer scheinbaren Radikalität berührt die Diskussion wirklich Grundfragen der Gerechtigkeit.
„Wer an überzogenen Einkommen etwas ändern will, der muss Strukturen ändern, die zu solchen Einkommen führen“, hat Thorsten Denkler auf süddeutsche.de den Nicht-Vorschlag der Linkspartei zur 100-Prozent-Besteuerung abgelehnt. Doch die große Geste der Zurückweisung fällt in sich zusammen, denn warum sollten nicht auch verfassungsrechtliche Grenzen, die keine ewigen Wahrheiten sind, sondern lebendiger Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, einmal anders gezogen werden. Um bei diesem rein juristischen Argument zu bleiben: Wie oft haben Bundesregierungen das Grundgesetz verändert, um ihren politischen Zielen den entsprechenden Rahmen zu verschaffen - nur ging es da nicht gegen Vermögen, sondern zum Beispiel gegen Flüchtlinge.
Kurzum: Statt aus Angst vor unangenehmen Schlagzeilen darauf zu verweisen, dass man es mit der 100-Prozent-Besteuerung von Rieseneinkommen - also einer harten Besteuerung jedes Euros über einer bestimmten Grenze - nicht so gemeint hätte, wäre die Linkspartei besser beraten, ihren eigenen Anspruch mit etwas mehr Selbstbewusstsein zu verfolgen: Man wolle, heißt es, „eine Diskussion darüber anstoßen, wie viel Ungleichheit diese Gesellschaft verträgt“. Also bitte! Man bliebe dabei nicht einmal unter sich. „100 Prozent Spitzensteuersatz?“, twitterte der grüne Bundestagsabgeordnete Wolfgang Strengmann-Kuhn im Sommer 2012 auf Kippings Vorschag hin. „Warum nicht?“ Eben.
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