Billiger und williger
Auf der Olympiabaustelle von Sotschi werden mehr als 16 000 ausländische Bauarbeiter ausgebeutet
Was ein Jackpot im Lotto ist, weiß Omurbek nicht. Und selbst wenn: Er könnte nicht mitspielen, ihm fehlt das Geld für den Tippschein. Dennoch glaubte der Mann aus dem usbekischen Fergana-Tal, den Hauptgewinn gezogen zu haben, als er das Angebot des Arbeitsvermittlers hörte: 770 Dollar monatlich sollte er in Sotschi bekommen, wo im Februar 2014 die Olympischen Winterspiele stattfinden. Eine Summe jenseits von Gut und Böse in der hoffnungslos übervölkerten Oasenregion, wo jeder zweite keinen Job hat. Im Dezember 2011 unterschrieb der gelernte Maurer den Arbeitsvertrag. Drei Monate später machte er sich auf den Heimweg. Mit dem Rest der Ersparnisse, die seine Familie für die Reise nach Russland zusammengekratzt hatte. Statt mit Barem wurde Omurbek mit Versprechungen abgespeist. Auf morgen vertröstet. Immer wieder.
Omurbek ist kein Einzelfall. Es sind vor allem Arbeiter aus den ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken, aus Armenien und der Ukraine, die seit 2009 in Sotschi Wettkampfstätten und Bettenburgen bauen, eine moderne Infrastruktur aus dem Boden stampfen. Hunderte Serben malochen ebenfalls auf der Großbaustelle des Raubtierkapitalismus. Nach Darstellung der russischen Ausländerbehörde sind von den insgesamt 74 000 Arbeitern, die die Staatsholding Olympstroi derzeit beschäftigt, ganze 16 000 Bürger anderer Staaten. Experten spekulieren aber, die Dunkelziffer könnte sehr viel höher sein: bis zu 50 000. »Gastarbeiter« sind billiger als Russen. Und williger. Bereit, jede Arbeit, egal wie schwer oder schmutzig, anzunehmen. Auch gegen menschenunwürdige Lebensbedingungen mucken sie nicht auf. Viele haben nicht einmal eine Arbeitserlaubnis und sind den Arbeitgebern schon allein deshalb auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Die ziehen häufig sogar die Pässe ein. Damit nur ja niemand den Bettel hinwirft.
Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) haben mehrere hundert Betroffene interviewt und die Ergebnisse in einer 67 Seiten starken Studie dokumentiert, die sie am 7. Februar, als in Sotschi der Countdown für die Spiele begann, dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) an dessen Sitz im schweizerischen Lausanne übergaben. Sie liest sich wie Karl Marx‘ Kritik an den Zuständen in englischen Textilfabriken vor der industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts.
Gängige Praxis ist demzufolge, dass Arbeiter erst ausbezahlt werden, wenn der Arbeitgeber der Auffassung ist, sie hätten ihren Job erledigt. Einen Monatslohn behalten viele sowieso als Entschädigung für den Verwaltungsaufwand einfach ein. Und einen weiteren bei denen, die gefeuert werden oder kündigen. Auch der Stundenlohn liegt häufig deutlich unter dem vereinbarten: 50 bis 80 Rubel, das sind 1,25 bis 2 Euro.
Die Schicht dauert in der Regel zwölf Stunden, gearbeitet wird häufig auch am Wochenende - ohne Überstundenzuschlag - freie Tage sind selten. Obwohl der Gesetzgeber auch in Russland die Vierzig-Stunden-Woche verordnet hat und eine Normalschicht nicht länger als acht Stunden dauern darf.
Automatisch abgezogen werden auch Kost und Logis - obwohl es häufig nur eine dünne Suppe gibt und bis zu 200 Mann in einer Baracke ohne fließend Wasser und mit Bio-Klos vor der Tür zusammengepfercht werden. Geschlafen wird nicht selten schichtweise.
Die russischen Behörden, mahnt daher der HRW-Report, seien durch nationale wie internationale Gesetze zu Arbeitsschutz und Einhaltung von Mindeststandards verpflichtet. die Staatsholding Olympstroi habe sich, bevor Bagger begannen, die Erde in Sotschi aufzureißen, sogar öffentlich und in aller Form dazu verpflichtet. Eigens dazu sei dort sogar eine Kontrollabteilung geschaffen worden, die eng mit den regionalen und lokalen Stellen und Arbeitgebern kooperieren soll. Außer ein paar Statements, die Unregelmäßigkeiten anprangern, sei indes nichts passiert. Das beweise »Unwillen und Unfähigkeit, die Rechte von Gastarbeitern zu gewährleisten«, rügte die HRW-Europabeauftragte Jane Buchanan.
Schelte gab es auch für das IOC: Die Countdown-Feier in Sotschi, an der auch Präsident Wladimir Putin teilnahm, wäre für die Herren der Ringe eine »gute Gelegenheit«, gewesen, von Russland »Achtung von Menschenrechten und Menschenwürde« zu fordern.
Wäre. Der Kremlchef regte sich zwar - zu Recht - über das vierfach überzogene Budget für die Spiele auf und ließ Köpfe rollen. Auf den Baustellen änderte sich dagegen nichts.
Auch die Gewerkschaften sahen bisher keinen Handlungsbedarf. Zumal sie vollauf damit zu tun haben, das eigene Elend zu verwalten. Durch Staatsnähe sind die meisten inzwischen so mitgliederstark, dass sie ihre Kongresse in einer Telefonzelle abhalten könnten. Die unabhängige Gewerkschaft der Kohlekumpel, deren Mitglieder schon mal mit ihren Grubenhelmen auf das Pflaster vor dem Moskauer Weißen Haus, dem Regierungssitz, eindroschen, gehört zu den wenigen Ausnahmen. In mittelständischen Unternehmen - und dazu gehören auch viele Baubetriebe - sind Gewerkschaften oft überhaupt nicht mehr präsent. Sogar Betriebsräte sind dort eher die Ausnahme denn die Regel.
In Schweigen zum Sklavenmarkt in Sotschi hüllte sich bisher auch Russlands KP. Proletarischer Internationalismus kommt zwar in den Sonntagsreden von Parteichef Gennadi Sjuganow mit schöner Regelmäßigkeit vor, mit der praktischen Umsetzung tun sich die Genossen allerdings erheblich schwerer.
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