Lange aufgestaute Wut

Die neoliberal-islamistische Hegemonie der Regierung Erdogan hat eine repressive Seite

  • Murat Cakir
  • Lesedauer: 4 Min.
Was zur Zeit in der Türkei passiert, kann nur mit dem Arbeiteraufstand vom 15. und 16. Juni 1970 verglichen werden. Genau wie damals erleben die Menschen historische und bewegte Tage, nach denen in der Türkei nichts mehr so sein wird, wie es bisher war.

Vieles erinnert an den ägyptischen Aufstand und an die Geschehnisse auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Doch weder ist der Taksim-Platz in Istanbul mit Tahrir, noch die Türkei mit Ägypten vergleichbar. Doch die noch andauernden Aufstandstage zeugen von der Veränderungskraft und Spontaneität der Massen.

Diese Spontaneität hat eine Geschichte. Die Nacht des 31. Mai 2013 sowie die folgenden Tage haben die aufgestaute Wut der Mittelschichten entladen. Sie künden den verspäteten »Türkischen Frühling« an, dessen Saat vor längerem ausgebracht worden war. Ob dieser »Frühling« jedoch Bestand haben wird, ist noch nicht ausgemacht.

Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) kam nach der verheerenden Wirtschaftskrise von 2001 an die Regierung. Ausgestattet mit den Vorschusslorbeeren ihres Demokratisierungsversprechens konnte sie die Früchte der Konsolidierungsmaßnahmen der Vorgängerregierung ernten und profitierte vom Wirtschaftswachstum. Mit ihrer »passiven Revolution« - so der Soziologe Cihan Tugal - errang sie breite Unterstützung in der Bevölkerung.

Die AKP war in der Lage, zum einen mit ihrer rigorosen neoliberalen Umbaupolitik, zum anderen als die einzige politische Formation, die einen steten Zufluss von ausländischem Kapital - insbesondere aus Katar und Saudi-Arabien - sicherstellt, die Unterstützung unterschiedlicher Kapitalfraktionen zu erhalten. Durch ihr Versprechen, die »Mutter aller Probleme«, nämlich den kurdisch-türkischen Konflikt, lösen zu wollen sowie ihren scheinbaren Kampf gegen die kemalistische Generalität sicherte der AKP zum dritten Male die Mehrheit im türkischen Parlament.

Aber in den letzten Jahren, insbesondere nach dem Verfassungsreferendum von 2010, wurde die repressive Seite der neoliberal-islamistischen Hegemonie immer stärker sichtbar. In den kurdischen Gebieten war das der Alltag. Der schmutzige Krieg, Massenverhaftungen, die beispielslose Unterdrückung hatten der kurdischen Bevölkerung sehr früh das wahre Gesicht der AKP offenbart. Der Wohlstandschauvinismus und die nationalistische Staatsideologie schienen die Menschen im Westen demgegenüber blind gemacht zu haben.

Jede zweite WählerIn hatte die AKP gewählt. Beim letzten Referendum hatte die AKP sogar 58 Prozent Zustimmung erhalten. Jetzt zeigte sich das arrogante und autoritäre Gesicht. Der Justizapparat und die Medien sind nahezu gleichgeschaltet. Proteste gegen die Regierung wurden mit brutaler Gewalt gegen Demonstranten bekämpft. Zahlreiche Protestierende verloren ihr Leben. Willkürjustiz und ein »Feindstrafrecht« par excellence führte dazu, dass Zehntausende, darunter gewählte PolitikerInnen, GewerkschafterInnen, JournalistInnen und WissenschaftlerInnen mit konstruierten Beschuldigungen ins Gefängnis gesteckt wurden.

Überall im Land machte sich Unmut breit über Privatisierungen, den Bau von Wasser- und Atomkraftwerken, über die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die Gentrifizierung ganzer Stadtviertel, Repression im Bildungswesen und insbesondere über den regierungsamtlich erklärten Krieg gegen die säkulare Lebensweise in den urbanen Zentren. Das Massaker von Roboski Ende 2011 an der türkischen Ostgrenze, wo 34 Bauern von türkischen Kampfjets getötet wurden, löste ein Fanal in der Öffentlichkeit aus - obwohl es von den regierungsnahen Medien lange Zeit totgeschwiegen wurde.

Dazu kam die regionalimperialistische Außenpolitik, deren Auswirkungen verheerend waren. Die Unterstützung islamistischer Terrorgruppen durch die Regierung wurde heftig kritisiert. Die toten Zivilisten in Akçakale, der Bombenanschlag in Antep und zuletzt der Anschlag in Reyhanli an der Grenze zu Syrien mit zahlreichen Toten und Zerstörungen erfüllten die Menschen mit Zorn. Die Polizeigewalt am 1. Mai und das Verbot des symbolträchtigen Taksim-Platzes für Gewerkschaftsaktionen waren die jüngsten Wegbereiter für den Aufstand.

Der kurdische Widerstand hatte den Menschen gezeigt, dass die Herrschenden nicht unbezwingbar sind. So waren die Bäume im Gezi-Park nur noch letzter Anstoß für die jetzigen Ereignisse.

In der ganzen Türkei sind nun Hunderttausende aufgestanden, um gegen autoritäre Regierungspolitik, für Frieden und Demokratisierung zu demonstrieren. Die Gewerkschaftskonföderation KESK hat einen Streik angekündigt, die kurdische Bewegung ihre Solidarität. Zwar versucht die kemalistische Republikanische Volkspartei, sich den Aufstand anzueignen, aber wenn es gelingt, dass Gewerkschaften gemeinsam mit »städtischen Rebellen« und der kurdischen Bewegung für Frieden und Demokratisierung den gesellschaftlichen Widerstand organisieren, werden weder die Kemalisten noch die Regierung die Oberhand gewinnen.

Noch ist die Gefahr einer Eskalation durch Polizeigewalt oder gar einen Militärputsch nicht gebannt. Die Menschen in Kurdistan und in der Türkei brauchen jetzt unsere Solidarität.

Murat Cakir ist Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen.

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