Was denkt Gott?

Die NSA und die Blasphemie der Geheimdienste

  • Friedrich Schorlemmer
  • Lesedauer: 7 Min.

Der liebe Gott sieht alles« - das war einst eine religiös drohende, moralisch disziplinierende und erzieherisch motivierte Redewendung. Brecht nimmt sie in seinem ironischen Gedicht »Was ein Kind gesagt bekommt« auf. Jeder Mensch wird für gläsern erklärt. Der Ursprungssinn findet sich indes im biblischen Psalm 139 und meint etwas ungemein Tröstliches. Dass da jemand erkennt und bezeugt, dass der Mensch nie allein ist, dass jemand um sein Dasein und seine Unverwechselbarkeit weiß.

Wie sollte man ahnen, dass die NSA einst »lieber Gott« spielt, den Menschen nicht behütend erforscht, sondern begierig ausforscht, abhört, abgreift, belauscht, hintergeht. Oder, um im Sinne des Psalms 139, 1-12, zu sprechen: Dass da ein Gott sei, der mich von allen Seiten umgibt, mich erforscht und mich kennt, macht mich meiner selbst gewiss. Ob ich sitze oder stehe. Er weiß es und er versteht meine Gedanken von ferne. Ob ich gehe oder liege, so ist er um mich und sieht alle meine Wege. Und es ist kein Wort auf meiner Zunge, das der Herr nicht schon wüsste. Er umgibt mich von allen Seiten und hält seine Hand über mir. Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch. Ich kann sie nicht begreifen. Denn wohin sollte ich gehen vor seinem Geist und wohin sollte ich fliehen vor seinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so ist er da, bettete ich mich bei den Toten, so ist er auch da. Nähme ich die Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort seine Hand mich führen und seine Rechte mich halten.

Und nun: Von allen Seiten umgibt sie mich, die NSA mit ihren technischen Raffinessen, mit ihren sechzehn Unterorganisationen. Alles, was technisch möglich ist, wird auch gemacht, weil es keine Moral gibt, wobei ihre Akteure meist sonntäglich in die Kirche gehen.

Die digitale Technik agiert virtuell, anonym und effizient. CIA-Spione in Menschengestalt werden indes nicht arbeitslos, denn jegliches Objekt der Wiss-Begierde hat ja noch Freundes- und Kneipengespräche, Liebesgeflüster und Gesprächskreise, Radfahren und Spaziergänge. Das Handy bleibt derweil im Kühlschrank verwahrt. Doch was soll der ganze Informationsmüll - diese überbordende Nachrichten-, Luft-, Wasser-, Lichtverschmutzung um den ganzen Globus? Die NSA bläht sich als neuartige Blasphemie-Institution auf, die die traditionellen Gottesattribute für sich in Anspruch nimmt, nämlich Omnipräsenz und Ubiquität.

Solches gotteslästerlich-hybrides, menschlich, moralisch wie politisch Unerträgliches übertrifft alle »1984«-Horrorszenarien George Orwells und findet nicht in einem totalitären kommunistischen System statt, sondern geht von dem »Land der Freiheit« aus, das anzapft - wie, wen, wo, was, warum es will, und dies auch noch mit dem Odium nationaler Sicherheit rechtfertigt. Die Freiheit verblutet auf dem Altar der Geheimdienste. Geheimdienste verselbstständigen sich längst in fast jedem Land der Welt, bis die Oberen des eigenen Landes ihre ihnen eigentlich unterstellten Lauscher fürchten müssen. Das war im stalinistischen und nachstalinistischen Sowjetblock üblich: Erich wusste alles über Erich.

Ein weiteres Grundprinzip in den USA lautet: Was dem eignen Land - ökonomisch oder militärisch - nützt, ist gut und legitim. Man nennt das Interessenwahrung oder gar Schutz der Freiheit und der Sicherheit. Sicherheit vor Freiheit?

Im überbordenden Schnüffelsystem tritt zynische Anmaßung der Weltmacht zutage, deren Mächtige immer noch denken, sie seien die Größten und dürften die Regel nicht nur bestimmen, sondern auch jederzeit brechen, während sie anderen die Moralkeule universell geltender Menschenrechte hinhalten, Schurkenstaaten ausrufen und Kampfdrohnen fliegen und töten lassen, wo immer und wann immer sie wollen.

Die US-Botschaft in Berlin ist strategisch platziert. Und der Botschafter weiß angeblich nicht, was unter seinem Dach »ganz oben« alles passiert. Er ist ein so geschickter Diplomat, dass er auf direkte Fragen so antwortet, dass er nicht bei einer Lüge ertappt werden kann, aber alles vermeidet, was in die Nähe der Wahrheit über geheime Machenschaften gegen »Freunde« kommt.

Ich erinnere mich im Übrigen daran, wie man jahrzehntelang ausführlich darüber berichtete, wie die Russen die amerikanische Botschaft in Moskau überwacht und verwanzt hatten. Das waren noch Zeiten, wo man Wanzen brauchte und menschliche Spione anstellen musste. Den Freiheitspreis sollte Frau Dr. Merkel zurückgeben, denn der gemeinsame Kampf um die Freiheit wird zum Hohn, wenn befreundete Nationen einander arglistig belauschen.

Was gemacht werden kann, wird auch gemacht. Ist das der neue Kantsche kategorische Imperativ? Die USA sind beim Machen des zuvor Undenkbaren schon immer Vorreiter gewesen. Die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki waren militärisch nicht mehr nötig, sollten aber aller Welt die Überlegenheit der USA-Technologie demonstrieren. Und nun werden die Amerikaner durch das geplante Freihandelsabkommen ihr genmanipuliertes Food bei uns in Europa einführen, gegen vielen wissenschaftlich begründeten und ethisch erhobenen Rat. Monsanto übernimmt global die Herrschaft.

Waterboarding haben die Amerikaner eingesetzt, um zur »Wahrheit« über Terroristen zu kommen. Chemiewaffen, in Gestalt von Agent Orange, wurden in Vietnam massenhaft verwendet. Die Bush-Administration hatte 2003 die Unverfrorenheit, ihren Außenminister Powell gespickt mit sechzehn erlogenen »Beweisen« vor dem UNO-Sicherheitsrat reden zu lassen. Sie fühlten sich befugt, einen nicht durch UN-Mandat legitimierten Krieg gegen den irakischen Diktator und sein Land zu führen. Auch damals lieferten die Geheimdienste gefällige Informationen, also alles, was der amerikanischen Kriegsführungsabsicht zupass kam. Der BND war mit von der Partie. Kleinere sind gemeinhin ganz glücklich, wenn sie Zuträger der ganz Großen sein dürfen. Geradezu großmütig reagierten 2002 die Chinesen, als ihre Spezialisten in der von den USA gelieferten Boeing ihres Präsidenten Jiang Zeming mehr als zwanzig Abhöranlagen entdeckten, aber diese Wanzenaffäre aus diplomatischen Gründen totschwiegen, um ein geplantes Gipfelgespräch mit George W. Bush nicht zu belasten; dabei war dieser Präsident eine einzige Belastung für den Weltfrieden bei seiner Strategie, den Terror weltweit mit Geheimdienstmethoden und Bomben zu bekämpfen.

Schließlich: Was diplomatische Vertretungen anrichten können, lässt sich an den Vorbereitungen des 11. September 1973 studieren, die zur Ermordung Allendes in Chile führen sollten. Man verlässt den erinnerten Schauplatz mit Entsetzen. Zumal, wenn man sich die Rolle des Friedensnobelpreisträgers Henry Kissinger und des damaligen US-Militärattaches in Chile vor Augen führt.

Der frühere KGB-Offizier Putin ist indes weltweit auch nicht »faul«. Wer erinnert sich noch an den mysteriösen Tod des Alexander Litwinenko? Dem Autokraten Putin nützt es geradezu, wenn der Offenleger der NSA-Machenschaften in Moskau Schutz findet. Als ob Russland nun ein Hort der einst so hoffnungsvollen »Glasnost« oder der Menschenrechte wäre.

Wer dies alles benennt, bekommt natürlich das Etikett »Antiamerikaner«. Und so grüße ich den Gessler-Hut: Wir verdanken den Amerikanern vieles wirklich Gutes, zumal bei der Befreiung vom Faschismus und bei der Installation einer Demokratie in den West-Zonen. Und die deutsche Einheit war zur Hälfte ehrliches Mitempfinden mit der geteilten Nation, zur anderen Hälfte durchaus geostrategisch motiviert.

Da ich mich im kommunistischen System immer offen gegen die sogenannte Parteilichkeit der Wahrheit gewehrt habe, will ich dies auch gegenüber unseren amerikanischen Freunden tun, auch wenn die verbale Intervention eines kleinen Bürgers aus einer deutschen Provinzstadt Amerikaner vom Schlage eines Dick Cheney oder eines kaltschnäuzigen NSA-Bosses herzlich wenig jucken wird.

Wenn selbst der heilige Stuhl im Vatikan abgehört worden ist, ließe sich Steigerung ins Unermessliche vorstellen: Das Abhorchen der Absichten, die Gott mit dieser kaputten Welt verfolgt. Vielleicht gäbe es da Hoffnungsvolles zu hören? Oder er sagt: Hört mich nicht ab. Ich will euch erhören!

P.S. Edward Snowden allerdings gebührt für seinen »Verrat unwürdiger Geheimnisse« (Ingeborg Bachmann) Asyl in einem demokratischen Staat, zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland. Am Besten am Pariser Platz in Berlin.

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