Lothar König und das Grundgesetz
Der Faschist genießt nicht den Anspruch, dass der Staat seine Demonstrationsroute mit Polizeizwang durchsetzt
Juristen der Strafjustiz zeichnen sich gemeinhin nicht dadurch aus, dass sie sich mit Grundrechten - noch dazu auf dem Gebiet der Meinungs- und Versammlungsfreiheit - besonders gut auskennen. Das ist in Dresden nicht anders als an anderen Gerichten der Republik. Die versammlungsrechtliche Gemengelage, in der Lothar König Straftaten begangen haben soll, wurde dementsprechend in dem Verfahren gegen ihn tunlichst ausgeblendet. Wo dies nicht möglich war, wurde sie von Gericht und Staatsanwaltschaft in einer Weise interpretiert, die auf ein haarsträubendes Grundrechtsverständnis schließen lässt.
Dreh- und Angelpunkt der Darstellung des Demonstrationsgeschehens in der Anklage ist das von der Polizei erfundene Konstrukt einer weitläufigen »Aufenthaltsverbotszone« für antifaschistische Demonstranten auf der Altstädtischen Elbseite. Die Staatsanwaltschaft behilft sich mit dieser Zone - von deren Existenz am 19. Februar 2011 außer der Polizei niemand wusste - und erweckt so den Eindruck, jeder Gegendemonstrant verhalte sich bereits durch seine schiere Anwesenheit in diesem Gebiet oder nur in dessen Nähe regelwidrig und müsse sich deshalb von der Polizei alles gefallen lassen. Dieses Freund-Feind-Schema ist ungetrübt von der Versammlungsfreiheit der betroffenen Demonstranten. Zu deren Grundrechten findet sich in der ansonsten überaus geschwätzigen Anklageschrift kein einziges Wort. Die Staatsanwaltschaft nennt sie nicht einmal Demonstranten, sondern »Linksautonome«, »Störer« oder »gewaltbereite Menge«.
Die Staatsanwaltschaft reiht sich damit ein in die von Teilen der Dresdner (Medien)Öffentlichkeit verbreitete Mär, der 19. Februar 2011 sei vor allem von einer gewaltsamen Invasion »linker Chaoten« geprägt gewesen. Dass dem nicht so war, bestätigen die Polizeivideos und die Berichte von Demonstrationsbeobachtern und -teilnehmern. Auch im Vergleich mit heutigen und früheren Berliner Demonstrationen, wie sie die Verfasser kennen, war das Demonstrationsgeschehen keineswegs außergewöhnlich gewaltvoll. Jene Konflikte und Auseinandersetzungen, die es tatsächlich gab, waren - ebenso wie die Unübersichtlichkeit der Lage für alle Beteiligten - in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass sämtliche Gegendemonstrationen im Vorfeld des 19. Februar faktisch verboten worden waren. Die Verantwortlichen in Dresden haben diese Lage selbst geschaffen. Dem überlieferten Schreckensszenario kommt daher vor allem eine Funktion zu: Es verdeckt die Rechtsbrüche der Dresdner Behörden.
Es war das strategische Ziel der Dresdner Versammlungs- und Polizeibehörden im Februar 2011, sich die natürliche Teilung Dresdens durch die Elbe zunutze zu machen und Nazis und Gegendemonstranten jeweils eine Seite des Flusses zuzuweisen. Umgesetzt wurde dies, indem keine der auf der Altstädtischen Seite angemeldeten antifaschistischen Versammlungen bestätigt wurde, sondern deren Organisatoren die Auflage erhielten, sie auf die neustädtische Elbseite zu verlegen. Diese polizeitaktisch motivierte, vom Verwaltungsgericht Dresden und vom Oberverwaltungsgericht Bautzen bestätigte Auflagenpraxis bedeutete für den Fall ihrer Umsetzung, dass es Proteste in der Nähe der Nazidemonstration nicht geben würde. Da die Nazis eine Versammlung auf der Altstädter Seite der Elbe angemeldet hatten, sollte es allen anderen Bürgern verwehrt sein, dort ihrerseits gegen das Weltbild der Faschisten zu demonstrieren. Die Versammlungsfreiheit der Rechten »stach« die Versammlungsfreiheit demokratischer und antifaschistischer Bürger.
Es kam freilich am 19. Februar 2011 nicht zu der beabsichtigten Trennung. Es war erwartungsgemäß praktisch unmöglich, einen großen Teil der Innenstadt vollständig abzuriegeln. So gelangten Tausende Gegendemonstranten trotzdem in den Bereich der Altstadt und machten dort von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch. Die Polizeikräfte allerdings operierten weiter in Anlehnung an das »Trennungskonzept« mit einer »Aufenthaltsverbotszone« und einem »Raumschutzbereich-Rechts«, ohne das allerdings an die Demonstranten zu kommunizieren. In den Bereichen, in denen Lothar König wirkte, verfügte die Polizei zum Teil nicht einmal über Megafone oder Lautsprecher. Gleichwohl: Wer sich anschickte, in diese Zonen - deren Lage und Ausmaße nur die Polizei kannte - einzudringen, wurde daran von der Polizei nach Kräften und unter Einsatz von Knüppeln, Wasserwerfern (bei Minusgraden!), Pfefferspray und Pepperball-Geschossen gehindert. Die Anmeldung von Spontanversammlungen durch Bundes- und Landtagsabgeordnete wurde nur sehr vereinzelt und in erheblicher Entfernung zu dem Bereich der Nazidemonstration zugelassen.
Auch diese grundrechtsfeindliche Dresdner Lesart des Artikel 8 des Grundgesetzes konnte nicht verhindern, dass Tausende Demonstranten auf und an der geplanten Route der Nazidemonstration gegen die Faschisten demonstrierten und durch ihre Anwesenheit deren Aufmarsch vereitelten. Hätte jedoch die Dresdner Verwaltung nicht versucht, die antifaschistischen und demokratischen Bürger daran zu hindern, gegen die Nazis in Sicht- und Hörweite zu demonstrieren, hätte sie die meisten Konflikte zwischen Polizei und Demonstranten, die es am 19. Februar 2011 gab, verhindert. Es war für die Behörden vorhersehbar, dass Tausende Bürger aus Dresden und dem ganzen Bundesgebiet am 19. Februar gegen die aufziehenden rechtsradikalen Horden demonstrieren würden. Ebenso klar war, dass dies nicht in der Dresdner Neustadt geschehen würde, wohin die Gegenveranstaltungen verlegt worden waren. Protest gegen die Präsenz von Nazis in der Öffentlichkeit erfüllt seinen Zweck nur am Ort dieser Präsenz, auf diese räumliche Nähe verleiht Art. 8 GG einen vom Bundesverfassungsgericht vielfach bestätigten Anspruch. Indem die Dresdner Behörden dies übergingen, schufen sie eine Lage, in der vorhersehbar Tausende Menschen in das Gebiet auf der Altstädtischen Seite strömten, ohne dort bestätigte und bekanntgemachte Anlaufpunkte für Versammlungen zu haben und ohne zu wissen, wo die Nazis marschieren würden. Obwohl oder gerade weil die Polizei das wusste, erfand sie den »Arbeitsbegriff« der Aufenthaltsverbotszone, in der die Grundrechte der Gegendemonstranten praktisch suspendiert und sie zu Vogelfreien gemacht wurden.
Es ist mit der Versammlungsfreiheit nicht vereinbar, wenn Gegendemonstranten auf die andere Seite eines Flusses verbannt werden, also kilometerweit von dem Gegenstand ihres Protests und von dem Ort entfernt, an dem sie eigentlich demonstrieren wollen. Das Demonstrationsrecht umfasst auch, den Ort selbst zu wählen, an dem man demonstrieren will.
Selbstverständlich hatten zwar NPD und andere Nazis das Recht zu demonstrieren. Genau so selbstverständlich hatte aber auch ein Lothar König das Recht, gegen NPD und Co. zu demonstrieren und sich »ohne Anmeldung zu versammeln« (Art. 8 GG). Das Recht zur Meinungsäußerung und Demonstration beschränkt sich nicht auf Kritik am Staat. Es ist umfassend: Auch gegen Aufzüge der Nazis und ihre menschenverachtenden Ziele darf jedermann demonstrieren - laufend, stehend, sitzend, liegend, auf den Händen gehend oder auf Stelzen. Er muss seine Versammlung auch nicht genehmigen lassen (das glaubt nur die Dresdner Staatsanwaltschaft). Er muss sie lediglich 48 Stunden vor ihrer öffentlichen Ankündigung bei der Versammlungsbehörde anmelden, damit diese sich darauf einstellen kann. Auch eine nicht angemeldete Versammlung steht unter dem Schutz des Art. 8 GG, und die Anmeldepflicht besteht nur dann, wenn der Demonstrationswillige sie auch erfüllen kann. Das war im Fall der Bürger, die am 19. Februar 2011 in der Nähe der Demonstrationsroute der Nazis von ihrem Versammlungsrecht Gebrauch machten, nicht der Fall. Sie wussten schlicht Tage zuvor nicht, wo die Rechtsradikalen aufmarschieren würden.
Dass die Junge Landsmannschaft Ostpreußen mit ihrer Versammlungsanmeldung als erste kam, ändert daran nichts. Es findet um die Ausübung der Grundrechte aus Art. 8 GG kein Windhundrennen statt. Der Faschist genießt nicht den Anspruch, dass der Staat gegen König und Co. seine Demonstrationsroute mit Mitteln des Polizeizwangs durchsetzt, nur weil er seine Demonstration früher angemeldet hat. Andernfalls würden Gegendemonstrationen durch Verwaltungshandeln untersagt, ohne dass die Verfassung und das Gesetz das vorsehen. Jede Demonstration würde daher »protestfrei«.
Kein Gesetzgeber, schon gar kein Verfassungsgeber, hat aber in Deutschland das bessere Recht des erstanmeldenden Demonstranten begründet. Eine solche Regelung wäre mit der Bedeutung des Versammlungsrechts für die Meinungsdemokratie auch nicht vereinbar. Sie würde die Demokraten zwingen, widerspruchslos die Umzüge der Faschisten hinzunehmen. Widerspruchslos, weil gegen die Naziaufzüge nicht in einer Weise demonstriert werden könnte, dass dies für die rechten Aufzügler, deren Zuschauer und die Öffentlichkeit sichtbar würde. Es entstünde am Ort des rechten Aufzugs der Schein, die dort postulierten Meinungen erhielten breite Zustimmung und provozierten keinen Widerspruch. Um es mit einem Bild zu verdeutlichen: Es könnte zu rechtsradikalen Fackelmärschen kommen, möglicherweise durchs Brandenburger Tor. Und die Weltöffentlichkeit würde wahrnehmen, dass dagegen in Deutschland niemand aufsteht. Diese Vorstellung ist mit der geltenden Grundrechts- und Versammlungsrechtslage nicht zu vereinbaren.
Es ist nicht Sache der Versammlungsbehörde und der Polizei, die Naziminderheit vor der Mehrheit der Demokraten zu schützen, wenn sich Angehörige dieser Mehrheit friedlich im Protest gegen NPD und Co. versammeln und gegen diese und ihre Ziele demonstrieren, und die Folge dieser friedlichen Demonstration ist, dass die Rechten ihre vorgesehene Marschroute nicht entlanglaufen können. Vielmehr endet dort das Recht der Nazis, weiter zu ziehen. Fehlt es an Ausweichmöglichkeiten, endet dort die Bewegung des Nazizuges. Die Faschisten werden dann an Ort und Stelle ihre Hetzereien fortsetzen müssen. Greift der Staat - wie geschehen - in das Recht der sich spontan Versammelnden ein und behindert er sie und ihren Aufzug, um NPD und Co. den Weg frei zu halten, macht er nicht nur eine schlechte Figur: Er verletzt die Rechte der »Spontandemonstranten« aus Art. 8 GG. Der Staat darf sich nicht auf die Seite der Rechten zwingen lassen.
Lothar König und die Mitglieder seiner Jungen Gemeinde waren am 19. Februar 2011 unter den demokratischen und antifaschistischen Demonstranten auf der Altstädtischen Seite der Elbe. Sie wurden wie so viele wiederholt Opfer rechtswidriger Polizeigewalt. Man hinderte sie an der Ausübung ihrer Grundrechte. Dadurch, dass die Dresdner Versammlungsbehörde vereitelt hatte, dass es einen angemeldeten und bekanntgemachten Aufzug der demokratischen und antifaschistischen Demonstranten auf der Altstädter Seite gab, waren die zahlreichen Demonstrantengruppen gezwungen, sich auf eigene Faust durch das Gebiet zu bewegen, in dem Versuch, von ihrem Demonstrationsrecht am Ort des Geschehens Gebrauch zu machen. Die Polizei trachtete derweil danach, jeden Zugang der Gegendemonstranten in die Nähe des Versammlungsortes der Faschisten zu verhindern.
Das gesamte Bemühen von Lothar König, das über weite Strecken ausdrücklich auch Gegenstand der gegen ihn gerichteten Anklage ist, zielte darauf, dieses Demonstrationsrecht friedlich durchzusetzen, und zwar im Zusammenwirken mit der Polizei. Immer wieder gab es über den Lautsprecherwagen Aufrufe, Hinweise und Forderungen danach, Gegendemonstrationen zu ermöglichen. Es gab Abgeordnete, die über den Lautsprecherwagen der Polizei anboten, eine Versammlung anzumelden, es wurde verlangt, zu anderen, unterdessen angemeldeten Versammlungen dazustoßen zu können. All diese Versuche scheiterten an der Polizei. Die Video- und Tonaufnahmen, die dies belegen, wurden der Verteidigung bis Ende Juni 2013 vorenthalten.
Man sieht dort, dass die Teilnehmer des Aufzugs, in dem sich auch Lothar König befand, diesen nur einzeln und unter Hinnahme einer polizeilichen Durchsuchung verlassen durften, etwa wenn sie ihre Notdurft verrichten wollten.
Dieser Einkesselung ging keine polizeiliche Auflösung der Versammlung voraus, die aber nach der herrschenden Rechtsprechung zwingende Voraussetzung für einen »legalen« Polizeikessel gewesen wäre. Die Polizei verfügte aber nicht einmal über die erforderlichen Mittel, hatte keine Lautsprecher oder Megafone vor Ort. Die Videos belegen, dass die Polizei nur durch den Einsatz von Pfefferspray und Knüppeln mit den Demonstranten kommunizierte; so wenig sie die Auflösung der Versammlung hörbar verfügte, so wenig teilte sie den Demonstranten mit, dass und warum sie eingekesselt waren.
Alle der mehreren Hundert Teilnehmer der Demonstration wurden so rechtswidrig ihrer Freiheit beraubt. Sie wurden daran gehindert zu laufen. Transparente mit antifaschistischen Parolen wurden ihnen mehrfach gewaltsam entrissen. Demonstranten, die der faktischen Einkesselung zuwider ihr Recht auf Weitergehen durch einfaches Zugehen auf die Polizeikette durchsetzen wollten, wurden unter Einsatz von Schlägen, Knüppeln und Tränengas zurückgetrieben. Hätte die Polizei die Versammlung aufgelöst, wäre dies gleichwohl rechtswidrig gewesen. Es gab keinen Grund, der gerechtfertigt hätte, die Grundrechtsausübung der Demonstranten gegen ihren Willen zu beenden.
Die Strategie von Versammlungsbehörde und Polizei in Dresden 2011 verhalf der Polizei dazu, unter dem Vorwand einer angeblichen Aufenthaltsverbotszone mit allen Mitteln gegen die Gegendemonstranten vorgehen zu können, ohne sich um deren Versammlungsfreiheit scheren zu müssen. Diese Vorgehensweise war nicht nur grundrechtswidrig, sie hat auch zur Chaotisierung der Lage beigetragen und ein enormes Konfliktpotenzial geschaffen. Der größte Teil der Auseinandersetzung zwischen Polizei und Demonstranten wäre vermeidbar gewesen, wenn die Verantwortlichen ein Konzept für den 19. Februar 2011 entwickelt hätten, in dem die Versammlungsfreiheit der Gegendemonstranten eine ebenso große Rolle gespielt hätte, wie diejenige der Nazis.
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