»Es ist mitunter nur noch eine Peinlichkeit«

Beate Klarsfeld im Gespräch über zu späte Anklagen gegen NS-Verbrecher, die Zukunft der Erinnerung und die Krim-Krise

  • Lesedauer: 9 Min.

nd: Seit dem Prozess gegen John Demjanjuk, der Aufseher im Vernichtungslager Sobibor gewesen war, wird in der Bundesrepublik wieder verstärkt gegen mutmaßliche NS-Verbrecher ermittelt. Erst vor wenigen Tagen sind in Baden-Württemberg drei Männer im Alter von 88 bis 94 Jahren vorübergehend in Untersuchungshaft genommen worden. Erfüllt Sie das mit Genugtuung?
Klarsfeld: Nein, es löst bei mir ein zwiespältiges Gefühl aus. Einerseits bin ich der Meinung, dass man die NS-Verbrecher bis an ihr Lebensende nicht in Ruhe lassen darf. Diese Menschen müssen wissen, dass sie immer noch zur Verantwortung für ihre Taten gezogen werden können. Jede Anklage ist ein wichtiger Beitrag gegen Verdrängung und Vergessen. Juristisch wird man andererseits nicht mehr viel erreichen können. Jetzt sind die Täter von damals im Altersheim, sie werden angeklagt und das Verfahren wird eingestellt. Es bringt doch nichts mehr. Es ist mitunter nur noch eine Peinlichkeit.

Sie haben einmal gesagt: »Es ging mir nie um Rache. Ich hatte immer das Gefühl, Gerechtigkeit schaffen zu müssen.« Kann es ohne Täter, gegen die noch bis zum Ende prozessiert werden kann, überhaupt Gerechtigkeit geben?
Das ist schwer zu sagen. Der Satz, den Sie zitieren, stammt aus einer Zeit, als wir in unserer Organisation, deren Mitglieder ihre Eltern oder Kinder durch Nazis verloren hatten, den »Schlächter von Lyon« Klaus Barbie vor Gericht bringen konnten und um die Auslieferung des Eichmann-Stellvertreters Alois Brunner kämpften, der vom Assad-Regime in Syrien versteckt wurde. Es ging dabei nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit. Wir haben eine deutsche Gesellschaft gesehen, die nichts zur Aufklärung der NS-Verbrechen tun wollte. Also haben wir es selbst getan.

Beate Klarsfeld

Vor einigen Tagen hat die Polizei in Baden-Württemberg drei mutmaßliche Wachmänner des Vernichtungslagers Auschwitz vorübergehend in Untersuchungshaft genommen. Seit im Prozess gegen den NS-Verbrecher John Demjanjuk die NS-Fahndungsstelle die Beihilfe zum Mord in Konzentrationslagern neu definierte und kein Gericht dem bisher widersprochen hat, sind auch jene NS-Schergen belangbar, die auf welche Weise auch immer dazu beitrugen, dass die Tötungsmaschinerie funktionierte. Zuvor galt ein Urteil des Bundesgerichtshofes als Maßstab, demzufolge für eine Verurteilung von KZ-Wächtern wegen Beihilfe zum Mord die individuelle Schuld nachgewiesen werden musste.

Beate Klarsfeld, Jahrgang 1939, wurde durch ihr Engagement bei der Aufklärung und Verfolgung von NS-Verbrechen bekannt – und mit einer Ohrfeige. 1968 ohrfeigte sie den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, um auf dessen Vergangenheit im NS-Apparat hinzuweisen. Zusammen mit ihrem Mann Serge sorgte Klarsfeld dafür, dass zahlreiche unbehelligt lebende NS-Verbrecher keine Ruhe hatten. Im März 2012 kandidierte sie für die Linkspartei bei der Wahl des Bundespräsidenten – sie unterlag Joachim Gauck mit 126 zu 991 Stimmen. Mit Beate Klarsfeld, die im Mai in Berlin wieder an der Aktion »Lesen gegen das Vergessen« teilnehmen wird, sprach Tom Strohschneider.
 

Haben Sie Sorge, dass die heutigen Verfahren eher Mitleid mit den greisen NS-Tätern auslösen?
Ich erinnere mich an den ersten Verhandlungstag gegen Demjanjuk im Jahr 2009. Ich war mit meinem Mann Serge in München. Demjanjuk wurde in einem Rollstuhl vorgefahren und lallte nur noch. Vielleicht hat ihm der Verteidiger sogar dazu geraten. Und natürlich wird das bei einigen auch die Frage aufgeworfen haben, warum stellt man diesen alten Mann jetzt noch vor Gericht? Gerade erst wurde im französischen Fernsehen über den Prozess gegen einen NS-Verbrecher berichtet, der in Oradour sur Glane an der Ermordung von 642 Zivilisten im Jahr 1944 beteiligt war. Der Mann ist 88 Jahre alt. Er weinte und sagte, es sei fürchterlich, was er gesehen habe, die Schreie der Kinder. Was sollen die Angehörigen der Opfer davon halten? Es ist nach 70 Jahren der erste Prozess in der Bundesrepublik zum NS-Massaker in Oradour sur Glane. Darin liegt das zentrale Problem: dass es in der Bundesrepublik so lange Widerstand gegen die juristische Aufarbeitung der Naziverbrechen gab.

Also müsste die Justiz selbst auf der Anklagebank sitzen.
Ich habe mich in meinem Leben sehr für die Verurteilung von NS-Verbrechern engagiert. Und ich habe dabei immer wieder erfahren, wie ungeheuer schwer es war, die Mörder und Schreibtischtäter vor Gericht zu bringen. Da wurde blockiert und vertuscht. Solche Leute wie der ehemalige Gestapo-Chef von Paris, Kurt Lischka, gegen den wir in den 1970er Jahren versucht haben, einen Prozess in Gang zu bringen, saßen in prominenten Ämtern, sie waren als Bürger völlig angenommen von der Gesellschaft. Empörung schlug stattdessen uns entgegen, die wir die alten Nazis zur Verantwortung ziehen wollten.

Aber nun wird ja - spät, aber immerhin - doch noch ermittelt.
Ich will das auch gar nicht in Abrede stellen. Die gesellschaftliche Lage hat sich verändert, auch die politische Stimmung in Deutschland. Man möchte jetzt zeigen, dass man doch noch etwas zur juristischen Aufarbeitung beiträgt. Es sind sicher auch andere Menschen in den Staatsanwaltschaften tätig als in den 1960er und 1970er Jahren.

Der in England lehrende Historiker Thomas Weber hat vor einiger Zeit vorgeschlagen, zur Aufarbeitung von NS-Verbrechen sollten Wahrheitskommissionen nach afrikanischem und lateinamerikanischem Muster gebildet werden. Beschuldigte könnten dann im Gegenzug für Immunität vor weiterer Strafverfolgung offen und ehrlich über die Beteiligung an NS-Verbrechen sprechen. Was halten Sie davon?
Nicht viel, weil ich nicht glaube, dass das etwas bringt. Als wir es Ende der 1970er Jahre endlich geschafft hatten, dass gegen die Gestapo-Leute Lischka, Herbert Hagen und Ernst Heinrichsohn, die in Frankreich an der Deportation von 76 000 Juden beteiligt waren, auch in Deutschland prozessiert wird, hörten wir von denen immer nur die Klage, dass wir den friedlichen Lebensabend dieser Nazis stören würden. Es war niemals ein Gefühl für die Opfer spürbar, diese Männer waren nur mit sich selbst befasst und hatten Sorge, dass sich jetzt ihr Leben ändern könnte. Ich habe nie Schuldgefühle oder Einsicht bei denen erlebt, immer nur Ausflüchte. Herbert Hagen, der als SS-Obersturmbannführer und Leiter des »Judenreferats« im Sicherheitsdienst-Hauptamt der Vorgesetzte von Adolf Eichmann war, ließ uns über seinen Sohn sogar ausrichten, wir, also Serge und ich, seien ganz gemeine Kriminelle und wir sollten doch echte Verbrecher wie den früheren US-Präsidenten Richard Nixon oder den israelischen Außenminister Mosche Dajan verfolgen.

In Israel oder den USA ist ihr antifaschistisches Engagement hoch gewürdigt worden. In der Bundesrepublik bisher noch nicht.
Ich bin in Frankreich gerade zum Kommandant der Ehrenlegion ernannt worden. Ich bin aber schon davor von den anderen Präsidenten wie François Mitterrand, Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy ausgezeichnet worden. Die Knesset hat mich zwei Mal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Das ist jedes Mal für mich eine große Ehre und eine Bestätigung meiner Arbeit. Ich weiß natürlich auch so, was ich getan, was ich geleistet habe. Und es geht auch nicht darum, ob ich selbst eine Auszeichnung möchte oder nicht. Das ist eine Sache der zuständigen Stellen in der Bundesrepublik, die müssten das wollen. Natürlich würde ich mich davon ebenso geehrt fühlen.

Was denken Sie, warum sich Deutschland bisher so schwer damit tut, ihr Lebenswerk zu würdigen?
Die Ohrfeige für den damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger 1968, dessen Nazi-Vergangenheit als NSDAP-Mitglied und Karriere im NS-Apparat wir doch nicht einfach so dastehen lassen konnten, haben manche wohl als Nestbeschmutzung aufgenommen. Wir haben mit unseren Aktionen zudem an einer Vergangenheit gerührt, die eine Mehrheit lieber verschwiegen hätte. Vielleicht spielte das eine Rolle.

Aber heutzutage ist das doch nicht mehr so. Zumindest hat die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit einen anderen, weit höheren Stellenwert.
Das ist sicher richtig. Aber dann müssten Sie Ihre Frage an jene richten, die für solche Auszeichnungen zuständig sind.

Als Sie 2012 für die Linkspartei als Bundespräsidentin kandidierten, wurde Ihnen vorgeworfen, Sie hätten Probleme mit dem Rechtsstaat. Offenbar eine Anspielung auf Aktionen, bei denen Sie in Konflikt mit den Gesetzen gerieten. Was sagen Sie zu einem solchen Vorwurf?
Ich habe überhaupt keine Probleme mit dem Rechtsstaat. Im Gegenteil. Ich trete in jedem Land, auch in der Bundesrepublik, für Rechtsstaatlichkeit ein. Es ist doch in Wahrheit so, dass der Rechtsstaat in Deutschland damals bei der Verfolgung von Nazi-Verbrechern versagt hat. Als mir der Richter im Prozess für die Ohrfeige vorhielt, ich hätte mit der Ohrfeige Gewalt angewendet, antwortete ich: Gewalt ist, wenn man der deutschen Jugend einen Nazi als Bundeskanzler aufzwingt. Wir haben versucht, NS-Schergen vor Gericht zu bringen. Manche erinnern sich vielleicht nicht, wie schwierig das damals war, einen Prozess anzustrengen. Wir sahen uns gezwungen, dabei auch manchmal Methoden anzuwenden, die im Widerspruch zu Gesetzen standen. Der Skandal war für uns aber nicht die eingeschlagene Fensterscheibe. Der Skandal war, dass die deutsche Gesellschaft sich blind stellte, statt die NS-Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen.

Die Aufarbeitung der Naziverbrechen, des Holocaust ist keine Verantwortung, die irgendwann endet. Aber sie wird sich ändern, die Zahl der Überlebenden, die authentisches Zeugnis ablegen können, wird immer kleiner; auch die Zahl der NS-Verbrecher, die angeklagt werden könnten, schwindet. Wie wird man künftig die Erinnerung lebendig halten?
Es gibt viele Museen, die mehr Unterstützung brauchen. Es existieren Gedenkstätten, deren Finanzierung gesichert werden muss. Es braucht engagierte Menschen, die sich weiterhin dafür einsetzen, dass die Erinnerung an die NS-Geschichte wachgehalten wird. Wir müssen aber vor allem dafür sorgen, dass die Jugendlichen wirklich etwas mitnehmen aus den Besuchen an historischen Orten, aus den Veranstaltungen. Wenn heute die Gruppen der Jugendlichen nach Auschwitz-Birkenau reisen, müssen die Lehrer sie vorher darauf vorbereiten, was sie dort sehen werden. Die Jugendlichen sollen dort erkennen, was die Shoah wirklich war. Und sie sollen lernen, dass man es auf keinen Fall zulassen darf, dass es neuen Antisemitismus, neue Ungerechtigkeiten gibt.

Frau Klarsfeld, wir sprechen hier vor dem Hintergrund der Krim-Krise, ein Konflikt, in dem die Geschichte des Zweiten Weltkrieg, des Holocausts auch gegenwärtig ist. Die Konfrontation dort hat Sorgen vor einem drohenden Krieg entfacht, von einer Spaltung Europas ist die Rede. Wem fällt die Verantwortung für die Eskalation zu?
Ich würde nicht sagen, dass es einen Hauptschuldigen gibt. Es hat von vielen Seiten Versuche gegeben, Öl ins Feuer zu gießen; und es hat ebenso Bemühungen gegeben, die Eskalation zu stoppen. Leider erfolglos. Vielleicht wäre es nicht so weit gekommen, wenn das Abkommen zwischen der ukrainischen Opposition und dem dann gestürzten Präsidenten Janukowitsch länger Bestand gehabt hätte. Doch im Nachhinein ist es müßig, über etwas zu spekulieren, das von der Geschichte überholt wurde.

Haben Sie Angst?
Die jetzige Situation beängstigt mich sehr, sie beängstigt wahrscheinlich uns alle, denn wir müssen mit ansehen, wie zwei Völker in Konfrontation zueinander geraten. Das ist meine größte Sorge: dass es zu einem Bürgerkrieg kommt. Es hat schon so viele Tote gegeben.

Das Abkommen, von dem Sie sprachen, hat unter anderem der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier mitverhandelt. Am Tisch saß auch eine rechtsradikale, antisemitische Partei als Gesprächspartner. Diese repräsentiert zwar keineswegs die ganze Opposition gegen Janukowitsch, aber sie sitzt nun mit in der Kiewer Übergangsregierung.
Ich habe viel von den Sorgen der jüdischen Gemeinden in der Ukraine gehört. Es wurden bereits Synagogen attackiert und Juden angegriffen. Die haben sehr große Angst, dass der Antisemitismus in der Ukraine nun stärker wird, was auch von der Stärke und Verankerung rechtsradikaler Gruppen abhängt. Wissen Sie, die Menschen in der Ukraine haben doch gesehen, was in Ungarn geschehen ist, wo die Rechtsextremen heute drittstärkste Kraft im Parlament sind, wo amtliche Geschichtsleugnung und antisemitische Skandale an der Tagesordnung sind. Diese Gefahr besteht nun auch in der Ukraine. Vor wenigen Tagen hat der französische Präsident François Hollande beim Diner du Crif, einer Versammlung des Dachverbandes der jüdischen Organisationen in Paris über die Vorgänge in der Ukraine gesprochen. Serge und ich saßen direkt neben ihm. Man fragt sich schon besorgt, ob die Europäische Gemeinschaft heute überhaupt noch einen ausreichend großen Einfluss hat, um solche Entwicklungen zu verhindern.

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