Degrowth ist ein politischer Kampfbegriff
Der Sozialforscher Matthias Schmelzer über die Perspektiven einer wachstumskritischen Bewegung
nd: Ab Dienstag treffen sich rund 3000 Menschen zur 4. Degrowth-Konferenz in Leipzig. Was eint die Teilnehmer?
Sie eint die Kritik an klassischen politischen Wachstumskonzepten, die die aktuellen sozialen und ökologischen Krisen nicht lösen können. Sie wollen an die Stelle von Technikgläubigkeit, Ökonomismus und dem Streben nach immer mehr eine politische Ökonomie des guten Lebens setzen.
Was ist eigentlich neu an Degrowth? Wie unterscheidet sich die Kritik dieser Bewegung von älteren Kritiken am Kapitalismus?
Ein großer Teil der älteren Kritik am Kapitalismus hat die ökologischen Krisen in ihrer Dramatik unterschätzt. Wir sind mittlerweile in einem Zeitalter angekommen, in dem menschliche Aktivitäten das Leben auf diesem Planeten ganz grundlegend bedrohen. Die Degrowth-Bewegung ist eine zeitgemäße Antwort auf das Anthropozän (die Epoche des Menschen, d.Red.). Was diese Bewegung aber am stärksten gegenüber älteren Kritiktraditionen auszeichnet, ist der Fokus auf die Entwicklung konkreter Alternativen und Utopien für ein gutes Leben jenseits des Wachstums.
Was sind Beispiele hierfür?
Das reicht von Komposttoiletten und Gemeinschaftsgärten über Reparaturwerkstätten und Genossenschaftsprojekte zur solidarischen Landwirtschaft bis hin zum Vorschlag eines Maximaleinkommens. Und es geht um makroökonomische Fragen, um Arbeit, Geld, Finanzen, Renten und um so grundlegende Themen wie Eigentum, Verteilungsgerechtigkeit und Macht. Und die Degrowth-Bewegung verbindet diese konkreten Alternativen mit Praktiken des Widerstands: zum Beispiel mit dem Protest gegen den Kohleabbau im Rheinland und in der Lausitz.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Degrowth-Kritik von Frankreich ausgehend über Spanien, Italien und den angelsächsischen Raum ausgebreitet und ist vor einer Weile auch in Deutschland angekommen. Kann man hierzulande schon von einer eigenständigen Degrowth-Bewegung sprechen?
Im engen Sinne handelt es sich nicht um eine soziale Bewegung – noch nicht. Vor allem ist Degrowth in Deutschland bislang als wissenschaftlicher und interdisziplinärer Diskurs produktiv gewesen. Gleichzeitig ist Degrowth aber auch ein politischer Kampfbegriff, mit dem sich viele konkrete Alternativen, Ansätze und Proteste zusammenbringen lassen. Viele dieser Initiativen kommen zur Konferenz. Vielleicht kann man genau darin die Anfänge einer echten Degrowth-Bewegung sehen.
Aber sind nicht viele der alternativen Ideen Nischenprojekte? Wo sehen Sie konkrete Alternativen, um diese Bewegung massentauglich zu machen?
In einem gewissen Grad haben Ideen wie Urban Gardening (Gartenbau in der Stadt, d.Red.), Car Sharing oder Reparaturwerkstätten in den letzten Jahren ja einen starken Aufschwung erlebt. In der Tat aber ist die Frage der Massentauglichkeit die zentrale Frage der Degrowth-Diskussion. Eine große Schwachstelle ist, dass viele Leute eine relativ naive Vorstellung davon haben, wie gesellschaftlicher Wandel funktioniert. Viele sehen in den Degrowth-Alternativen Pionierprojekte, die gesellschaftlichen Wandel allein als Vorbild und durch neue Narrative voranbringen. Fragen von Herrschaft und Widerstand sowie Probleme des Klassencharakters von Konsum tauchen da nicht auf.
Vor einem Jahr hat die Wachstums-Enquete-Kommission des Bundestags ihren Abschlussbericht vorgelegt. Welche Rolle spielt das Thema seitdem in der Öffentlichkeit?
Mein Eindruck ist, dass das Thema in den letzten Jahren insgesamt sehr stark angekommen ist. Viele Menschen wissen, dass unsere Lebensweise ökologisch nicht nachhaltig ist und auf globaler Ausbeutung beruht. Das hat aber nichts mit der Enquete-Kommission zu tun. Im Gegenteil: Viele sind unzufrieden, dass das Thema mit der Kommission auf der offiziellen politischen Ebene so schnell wieder begraben wurde, und wollen versuchen gegenzusteuern. Auch weil klar ist, dass man in diesem Rahmen, in dem die parteipolitische Logik herrscht, mit dem Thema nicht vorankommen wird.
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