Invasion der Unabhängigen
Beim »First we take the Streets« spielen Musiker, die kein Label hinter sich haben
So sehen sie aus: die Underdogs, die Unbekannten. Die, die kein Label hinter sich haben, das sie bei der Berlin Music Week unterbringen könnte. Entlang der Eastside Gallery stehen am Freitagnachmittag Männer mit Keyboards und Frauen mit Gitarren. Viele sind angezogen wie für einen Nachtclub, haben sich extra schön gemacht für ihre Chance, auf der Berlin Music Week zu spielen. Auch, wenn es »nur« auf dem »First we take the Streets« ist, dem Straßenfestival der Musikwoche.
Auch Raposo hätte es sich vor ein paar Wochen nicht träumen lassen – aber am Freitag spielt er bei der Berlin Music Week. 15 Uhr, Platz 7. »Ich weiß noch gar nicht, wo der ist«, sagt er lachend. Hoffentlich jedenfalls nicht dort drüben: Vor einem Bürogebäude steht ein junger Mann mit Gitarre und Mundharmonika, ganz allein. Es ist die falsche Seite der Straße, die Menschen flanieren entlang der bemalten Mauer der Eastside Gallery, nicht auf der eher kahlen Seite, auf der sich die O2-Arena breitmacht. Man kann ihn zwar gut von hier aus sehen – zu hören ist durch den dichten Verkehr kaum etwas.
Der Termin passt Raposo, der eigentlich Fernando Epelde heißt, auf jeden Fall gut. Gerade ist sein erstes Album digital erschienen, demnächst kommt auch die Vinyl dazu raus. Beides im Selbstverlag: auf dem Label »El Susto«, das er gerade mit zwei Freunden gegründet hat, am Samstag ist die Release Party dazu. Auch für sein Album hat er alles selbst gemacht – nur nicht das Cover. Das hat seine Freundin designed. Vor fünf Jahren war Raposo schon mal berühmt. Da tourte er mit dem kommerziellen Elektro-Projekt »Spam« zwei Jahre lang durch Europa. Keine schöne Erfahrung: »Das war wie Karaoke für mich«, sagt er. Jetzt will er lieber seine eigenen Stücke spielen. Von seiner Musik leben kann Raposo derzeit nicht. Aber er hat das Glück, für verschiedene Auftraggeber Theaterstücke zu schreiben. »Da kommt mein Geld her – und es lässt mir genug Zeit und Luft, an meiner Musik zu arbeiten.«
Der Spanier mit dem kleinen Schnurrbart wird langsam aufgeregt. Es ist das erste Mal, dass er auf der Straße spielt. Meistens tritt er mit seinem verspielten Dance-Pop in kleinen Berliner Live-Clubs auf. Lieder wie »Street Art Symphony” und «Girl, you must pay the U-Bahn!» passen da perfekt hin. Mit charmant spanisch klingendem Englisch beschreibt er in seinen Stücken das Leben in der Großstadt. Vor einem Jahr kam Raposo nach Berlin, vorher lebte er in Santiago und Madrid. Dorthin zurück möchte er nicht – vielleicht nie mehr.
Denn Raposo ist sauer. Sauer auf sein Land, dessen Politik der letzten Jahre er verurteilt. «Seit wir eine konservative Regierung haben, wird es immer schlimmer», erzählt er. «Sie bekämpft alles, was mit Kultur zu tun hat.»
Bis vor kurzem habe es in Madrid drei Festivals für Musik und vier für Theater gegeben. Jetzt sei nur noch eins von ihnen übrig. Es ist nicht nur das Geld, das der Staat spart, und deshalb keine Projekte mehr unterstützt. Mit immer strengeren Auflagen und Polizeikontrollen wird Veranstaltern das Leben schwer gemacht. Viele Clubs können die Auflagen nicht stemmen und müssen schließen. «
Ich glaube, das ist auch eine Revanche der Regierung – schließlich kommen viele Aktivisten aus der Kunstszene.» Deshalb ziehen so viele Spanier nach Westeuropa. «Nicht nur wegen der ökonomischen Situation – auch, weil sie vor dem Druck der Regierung fliehen.»
Etwas Positives kann Raposo der Situation in Spanien trotzdem abgewinnen: Im Untergrund floriert die Kunstszene, findet eine neue Heimat in besetzten Häusern und unabhängigen Projekten. «Eine Situation wie die in Spanien provoziert Bewegung», sagt er. Trotzdem: «So was wie die Berlin Music Week wäre dort gar nicht mehr möglich», sagt der junge Mann und fasst die Mauerpromenade mit ausgebreiteten Armen zusammen. «In Berlin kannst du noch atmen», seufzt er.
Zwischen den offiziellen Slots der Berlin Music Week haben sich mittlerweile auch die üblichen Verdächtigen eingefunden – Singer-Songwriter, für die das Spielen auf der Straße kein Event ist, sondern hart verdientes täglich Brot. «Vielleicht bleiben durch das Festival auch mehr bei mir stehen und hören zu», sagt einer von ihnen. «Man weiß nie was passiert», ergänzt Raposo. «Gerade wenn man allein unterwegs ist, können die verrücktesten Dinge geschehen – und oft tun sie das auch.»
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