»Für alle Probleme gibt es vernünftige Lösungen«

Ist die neue Weltunordnung den Umbrüchen von 1989/90 geschuldet? Ein Gespräch mit Egon Bahr

  • Lesedauer: 17 Min.

Herr Bahr, sind Sie - 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer - zufrieden mit der Entwicklung in Europa oder eher enttäuscht?

Teils, teils. Die europäische Einigung ist die größte Erfolgsstory seit dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg. Ein Traumergebnis: Ein Krieg zwischen den einstigen »Erzfeinden« Deutschland und Frankreich ist unmöglich geworden. Mehr noch: Europa ist weder in der Lage noch willens, einen Krieg zu führen, nicht einmal einen Krieg zu erklären. Es herrscht Frieden in Europa seit siebzig Jahren.

Ende der 1990er Jahre führte Europa Krieg gegen Jugoslawien.

Das war der einzige Schritt abseits vom Wege. Europa liegt an der Leine. An der Leine der NATO. Und das hat etwas zu tun mit der Special Relationship zwischen den Engländern und den Amerikanern. Deshalb kann Europa in allen außen- und sicherheitspolitischen Fragen nicht mit einer Stimme sprechen. Die Engländer blockieren jede Entscheidung, die den Amerikanern nicht gefällt.

Während meiner Verhandlungen 1970 in Moskau habe ich Herrn Gromyko genau so offen und klar erzählt, was wir können und was wir nicht können, wie zuvor Herrn Kissinger. Andrej Andrejewitsch, der sowjetische Außenminister, hat bei einer Tasse Kaffee nach dem Essen gefragt: »Wann muss man denn damit rechnen, dass Europa mit einer Stimme spricht?« Da habe ich ihm gesagt: »Wiedervorlage in zwanzig Jahren, Herr Minister.« Hat er gefragt: »Meinen Sie das ehrlich?« - Ja. Als ich das meinem Bundeskanzler mitteilte, meinte Brandt: »Du bist ein Defätist.« Er konnte sich nicht vorstellen, dass es so lange dauern würde. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass die deutsche Einheit schneller kommt, als die Fähigkeit Europas, mit einer Stimme zu sprechen.

Sind Sie ein Defätist?

Ich bin Optimist. Und ich weiß: Der »Rest« der Welt wartet nicht darauf, dass die Europäer endlich ihre Schularbeiten machen. Die Zeit läuft ab, ist begrenzt, in der Europa sein Ziel erreichen kann, ein international handlungsfähiger Pol in der multipolaren Welt zu werden.

1970 war Europa in Ost und West gespalten. Die vielen neuen Mitgliedstaaten, Polen, Ungarn, die baltischen Staaten, haben eigene Interessen, verstärken die Stimmenvielfalt, leider auch mit Russenphobie. Alle zerren an ihrer Seite des Tischtuchs. Wird das die EU zerreißen? Ist das Projekt Europa doch gescheitert?

Ich hoffe nicht. Für alle Probleme gibt es vernünftige Lösungen.

Hat der Westen mit der Osterweiterung der NATO Russland düpiert?

Ich nehme es keinem der Staaten, die nach 1990 Mitglied der NATO geworden sind, übel, dass sie das wollten. Sie wollten Sicherheit vor Russland, und zwar schnell und billig. Ich erinnere mich aber, dass wir zu unserer Zeit keine Sekunde daran geglaubt haben, dass die 3700 alliierten Soldaten, die in Westberlin zu unserem Schutz stationiert waren, in der Lage gewesen wären, gegen 500 000 Mann einer sowjetischen Elitearmee auch nur mehr als ein paar Stunden standzuhalten. Dass wir nicht angegriffen wurden, verdanken wir der Sicherheit, die man in Moskau hatte. Und man wusste dort: Ein Angriff auf Berlin würde Krieg mit Amerika bedeuten. Und Krieg wollte damals niemand. Und Krieg will heute auch keine Seite.

Sind Sie sicher?

Ja. Die Sicherheitsgarantie der neuen EU-Mitgliederstaaten in Osteuropa ist ihre NATO-Mitgliedschaft und nicht die Anzahl der bei ihnen stationierten NATO-Soldaten und Soldatinnen, Panzer, Flugzeuge etc. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist der, auf den - ich blicke wieder zurück - auch schon Gromyko beharrte: »Wir haben uns über nichts geeinigt, so lange wir uns nicht über die Grenzen geeinigt haben.« Alle Grenzen in Europa, egal wer sie wann, wo und wie gezogen hat, müssen unangreifbar, unveränderbar und unüberwindbar sein. Und so haben wir uns hingesetzt, vor allem mit Herrn Falin, der damals Leiter der Dritten Europäischen Abteilung in Moskau war, und haben die Formel gefunden: Alle Grenzen in Europa, egal wer sie wann, wo und wie gezogen hat, können nur oder dürfen nur im gegenseitigen Einvernehmen geändert werden. Das war die Erlösung, die dann wörtlich in Helsinki, in der KSZE-Schlussakte übernommen worden ist. Unvorstellbar schien nun auch, dass die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten aufgehoben werden könnte. Dagegen waren nur Albanien und die CDU. Hat aber auch nichts ausgemacht, den KSZE-Prozess nicht torpediert.

Nun wirft der Westen aber Putin vor, die Grenzen der europäischen Nachkriegsordnung verändern zu wollen. Will und kann er das? Und wie schätzen sie Russlands Präsidenten ein?

Also erstens: Ich habe ihn noch nicht getroffen, kenne ihn nicht, habe ihn sozusagen nie gefühlt. Zweitens: Wir hatten das Glück eines schweizerischen Bundespräsidenten, der als OSZE-Oberhaupt zu Putin gefahren ist und stundenlang mit ihm sprach. Mit dem Ergebnis, dass die OSZE eine verantwortliche Rolle im Ukraine-Konflikt eingeräumt bekam und Runde Tische gebildet wurden. Das war für mich das Zeichen, dass Putin ernsthaft eine einvernehmliche Regelung anstrebt. Wir mussten dann erleben, dass sein Einfluss begrenzt war. Er hat »nur« dazu gereicht, einige der von den Separatisten gefangen genommene OSZE-Beobachter freizubekommen.

Ich kann nur eines klipp und klar sagen: Wenn wir nicht zu der Minsker Friedensvereinbarung zurückkehren, dann gehen wir unruhigen Zeiten entgegen.

Wie ehrlich ist die strategische Partnerschaft mit Russland? Ist sie beendet oder nur unterbrochen?

Man muss revitalisieren, was beschlossen worden ist, was in der NATO-Russland-Akte steht. Und dazu gehört Vertrauen. Vertrauen haben wir aber im Augenblick eben nicht. Das ist die Not, die Krux. Man muss Vertrauen wieder herstellen.

Aber wie? Ihr guter Bekannter Henry Kissinger vermutet, dass die US-Regierung in der Ukraine einen von ihr erhofften Regimewechsel in Russland probt. Teilen Sie seine Ansicht?

Ich habe eine berühmte Freudsche Fehlleistung im Ohr: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.«

Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 auf einer internationalen Pressekonferenz: »Äh, mir ist nicht bekannt, dass solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen.«

Richtig. Daran habe ich mich erinnert, als Obama vor kurzem sagte: »Russland ist eine Regionalmacht, die einige ihrer direkten Nachbarn bedroht - nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche.« Das entsprang einer Analyse von Herrn Brzezinski, einst Sicherheitsberater bei Carter. Brzezinski konstatierte: »Russland ohne die Ukraine ist eine Regionalmacht.« Obamas Freudsche Fehlleistung ist von etwas größerer Dimension als Ulbrichts. Putin will die Ukraine gar nicht »haben«.

Woher wollen Sie das wissen? Die Krim ist wieder bei Russland.

Die territoriale Integrität der Krim muss anerkannt werden - und zwar von allen Seiten. Ebenso ist anzuerkennen, dass eine NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine unmöglich ist. Bleibt die Frage mit der EU. Die Ukraine wird noch auf lange Zeit nicht reif sein für eine Vollmitgliedschaft. Finnland, Schweden und Österreich sind keine NATO-Mitglieder, gehören aber der Europäischen Union an. Das könnte eines fernen Tages auch die Ukraine. Nach einigen Dummheiten hat nunmehr aber Brüssel erklärt, die Ukraine ist auf lange Zeit nicht reif für die Vollmitgliedschaft.

Sie würden eine ukrainische Vollmitgliedschaft in ferner Zeit begrüßen?

Ja, natürlich. Es bliebe allerdings die ukrainische Spezialität der Spaltung des Landes zwischen lateinischem und orthodoxem Christentum. Dieses Problem können die Ukrainer nur allein regeln. Und werden das auch, wahrscheinlich in einer wie auch immer gearteten föderativen Form.

Glauben Sie, der Ukraine-Konflikt ist der Spaltung der Nation in orthodoxe und römische Christen geschuldet? Und der Kitt des europäischen Hauses sind religiöse Werte?

Nein. Aber die einigenden christlichen Werte sind unbestreitbare Realität, die kann ich doch nicht wegbeschließen wollen.

Wer oder was ist Ihrer Ansicht nach schuld am Krieg in der Ukraine?

Ich bin kein Schiedsrichter. Mir ist allerdings aufgefallen, dass der republikanische Senator McCaine in Kiew auftrat und Erklärungen abgab, als könne er für Amerika sprechen und obendrein vollbrüstig der Ukraine die NATO-Mitgliedschaft in Aussicht stellte. Ich kann auch nicht vergessen, dass wir Deutschen einen Außenminister hatten, der ebenfalls dorthin fuhr und das Gleiche suggerierte. Und ich kann nicht übersehen, dass der amerikanische Vizepräsident in Kiew Entsprechendes sagte und sein Sohn in der Administration einen Job bekam, durch den die Amerikaner alles wissen, was sie wissen wollen.

Steinmeier hat zusammen mit seinen Kollegen, dem Franzosen Fabius und dem Polen Sikorski, eine Regelung erreicht, durch die klar ist, dass es keine Regelung für die Ukraine mehr geben kann ohne Beteiligung Europas. Das ist etwas, was weiter gelten kann und wirken wird. Ich weiß übrigens bis heute nicht, weshalb der Janukowitsch abgehauen ist.

Weil der nunmehrige Ex-Präsident um sein Leben fürchtete.

Das ist unwahrscheinlich. Das Abkommen der drei Außenminister wurde mit Janukowitsch ausgehandelt. Ich weiß, dass Steinmeier überrascht war, am nächsten Morgen zu erfahren, dass er in der Nacht abgehauen ist. Nun hat er in Russland Asyl bis zum Ende seines Lebens.

Gorbatschow hat jüngst in Berlin gemahnt, es drohe ein neuer Kalter Krieg. Laut dem kürzlich verstorbenen Peter Scholl-Latour befinden wir uns in einem solchen schon seit Jahren. Ihr Kommentar?

Ìch schätze und bewundere sowohl Michail Sergejewitsch wie Scholl-Latour. Trotzdem möchte ich darauf hinweisen, dass »Kalter Krieg« der Ausdruck für den Systemkonflikt zwischen Ost und West war. Diesen Systemkonflikt gibt es nicht mehr. Die Frage war: Ist der Kommunismus oder der westliche Kapitalismus zukunftsträchtig? Diese Frage ist entschieden. Heute steht eine andere an. Diese hat der gebürtige Ungar Soros, als der Kalte Krieg vorbei war, treffend formuliert: Wenn der Kapitalismus nicht fähig ist zu Reformen, wird es ihm genauso ergehen wie dem Kommunismus - er wird untergehen. Die Hypertrophie des Kapitalismus, wie wir sie gegenwärtig im Westen erleben, ist so beachtlich, dass ich eine Gefährdung dieses Systems für denkbar halte. Vor allem, wenn ich an einen maßgeblichen Faktor denke, der in den politisch-strategischen Überlegungen kaum eine Rolle spielt.

Welchen meinen Sie?

Das Internet und das Handy.

Diese beiden Innovationen sind an der Weltmisere schuld?

Zu einem großen Teil. Ohne Handy kein Arabischer Frühling. Ohne Handy keine Unruhen in der Wallstreet. Deutschland hatte einen Verteidigungsminister, der innerhalb von 48 Stunden der Lüge überführt war. Und 48 Stunden später gab es eine Petition an die Kanzlerin, der sie mit der Entlassung des Schwerenöters gefolgt ist. Das globale Netz spielt schon in der internationalen Politik mit.

Das bedeutet?

Das sich alle Global Players und nicht Global Players auf drei Prinzipien einigen müssten: Gleiche Sicherheit, Verlässlichkeit, Kontrollierbarkeit. Damit wir alle in einer Welt friedlich zusammen leben können.

Neue Spannungen, neue Kriege - sind die Umbrüche von 1989/90 schuld an der heutigen Weltunordnung? Die Welt ist nicht friedlicher geworden nach dem Ende des Kalten Krieges der Systeme.

Nein, ist sie nicht.

Die bipolare Welt war friedlicher.

Nein. Auch damals wurde in vielen Regionen der Welt geputscht, wurden Kriege geführt. Als Gorbatschow jetzt in Berlin war, sagte er zu mir: »Viele Leute glauben, es sei uns damals leicht gefallen, das zu machen, was wir gemacht haben. Das Gegenteil war der Fall.« Und das stimmt.

Über die Sicherheitsstruktur für ein zu vereinigendes Deutschland entschieden nur die beiden damals mächtigsten Männer: Bush senior und Gorbatschow. Sie brauchten dazu weder Mitterrand, noch Maggie Thatcher, noch Kohl, noch die Ostberliner zu fragen, geschweige zu konsultieren. Bush und Gorbatschow entschieden, dass die NATO nur bis zur Oder-Neiße-Linie ausgedehnt wird, also bis zur polnischen Westgrenze. Gorbatschow beharrte darauf: »Ihr dürft uns nicht auf den Pelz rücken.« Und Bush sicherte ihm zu: »Es werden keine fremden Truppen und keine Atomwaffen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert.« Daran haben sich die Amerikaner gehalten. Aber beide, Gorbatschow wie Bush, konnten nicht voraussehen, dass es ein Jahr später keine Sowjetunion mehr geben würde. Keiner der beiden hat rechtliche Verpflichtungen für seine Nachfolger abgegeben und geben können!

Ja und?

Ich will damit sagen: Es ist niemand über den Tisch gezogen worden. Das war die Realität. Und die heutige Realität ist: Beide Mächte, Amerika und Russland, sind gegenüber anderen schwächer geworden. Aber beide sind die einzigen, die über eine atomare Zweitschlagfähigkeit verfügen. Den Schirm, den sie zwischen sich während des Kalten Krieges gespannt haben, hielten sie mit großem Verantwortungsgefühl aufgespannt. Das galt auch in der Kuba-Krise. Diesen Schirm gibt es noch. Er bürgt für die Sicherheit in Europa.

Aber die Beziehungen zu Russland sind miserabel. Brauchen wir eine neue Ostpolitik? Und wie würden die Kernthesen lauten, wenn Sie diese formulieren würden?

Zurück zu Minsk, zurück zur NATO-Russland-Akte. Also Abbau von Bedrohungen. Dann folgt alles andere. Wir haben schon durch die Ostsee-Pipeline gemeinsame Sicherheit gewonnen. Es gilt, gemeinsame Interessen wie Energie gegen Geld zu vereinbaren und sich daran zu halten.

Wie stehen Sie zu den Sanktionen?

Ich habe Sanktionen nie für wirksam gehalten. Putin kann Zeitung lesen. Und da liest er die Botschaft: »Es soll euch nicht wehtun. So ernst meinen wir das gar nicht.«

Derart interpretieren Sie die Sanktionspolitik gegen Russland?

Ja. Wovor soll Putin Angst haben? Vor etwas, was ihm nicht wehtun soll? Das ist doch lächerlich. Die Wirtschaft wird ihre Interessen nicht auf dem Altar der Politik opfern. Das hat die deutsche Wirtschaft auch unter Adenauer nicht getan. Und dank unserer Ostpolitik boomte sie.

Der SPD wird nach wie vor vorgehalten, mit der Ostpolitik die deutsche Einheit aufgegeben zu haben.

Quatsch. Mit diesem alten Vorwurf setze ich mich nicht mehr auseinander. Wir haben das Gegenteil oft genug bewiesen.

Im Januar 1989 sprachen Sie mit dem US-Botschafter Vernon Walters, der Ihnen sagte, er werde die deutsche Vereinigung noch als Botschafter in Bonn erleben. Sie würde wie eine Flutwelle anrollen. Ein Indiz dafür, dass Washington gewisse Schleusen zielgerichtet geöffnet hat?

Ich weiß nicht, was der CIA eingeleitet hatte. Ich fand den Walters sehr sympathisch, weil er fast alle Karl May-Bände in seiner Bibliothek hatte. Aber ich habe seine Worte nicht ernst genommen. Ich fragte nur: »Wie lange werden Sie denn bei uns Botschafter bleiben?« - »Drei Jahre.« Da habe ich abgewunken. Doch bevor diese um waren, ist seine Ankündigung eingetreten.

Wir waren in der DDR überrascht, als 1987 sowjetische Schriftsteller über eine Vereinigung beider deutscher Staaten debattierten. Ich kann dazu nur sagen: Wir haben 1970 in Moskau einen Vertrag geschlossen und dort den sogenannten Brief zur Deutschen Einheit hinterlegt, in dem stand, dass der Anspruch des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung durch den Vertrag nicht berührt wird. Das Wort »Wiedervereinigung« kam darin nicht vor. Es steht auch nicht im Grundgesetz. Und mehr war nicht zu erreichen. Das hat auch die DDR akzeptiert. Und so wurde auch Helsinki möglich. Die ganze Welt hat die deutsche Einheit nicht mehr ernst genommen; sie stand zumindest nicht auf der Tagesordnung.

Die Sozialdemokraten werden von der CDU immer noch als »Vaterlandsverräter« diffamiert, dabei hat Kohl Ihre Ostpolitik fortgesetzt - und just auch vor harschen Tönen an die Adresse Moskaus gewarnt.

Kohl ist ein Beispiel dafür, dass ältere Herren Recht haben können. Genauso wie Kissinger, genauso wie Gorbatschow. Und, wenn ich mich einbeziehen darf ...

Selbstredend dürfen Sie.

Ich habe neulich mit größter Aufmerksamkeit zwei große Reden wiedergelesen: die von Brandt im Frühjahr 1990 auf dem Parteitag der SDP in Gotha, an einem historischen sozialdemokratischen Ort ...

Der Vereinigungsparteitag von SDAP und ADAV fand dort 1875 statt. In Gotha wurde auch die USPD 1917 gegründet, eine linke Abspaltung der SPD.

Richtig. Und die zweite Rede, die ich jetzt noch einmal nachlas, war Kohls erste Regierungserklärung vor dem gesamtdeutschen Parlament. In beiden Reden kommt das Wort »Unrechtsstaat« nicht vor.

Sie haben mir eine Frage »geklaut«. Ich wollte Sie nämlich noch später fragen, ob Sie je das Gefühl hatten, mit Vertretern eines Unrechtsstaates zu verhandeln?

Soll das ein Witz sein?!

Brandt wie Kohl haben unabhängig voneinander das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gelobt, mit dem Zusatz, sie könnten auch zu Recht stolz auf ihre Lebensleistung sein. Und sie haben nicht allein den Krieg verloren. Kohl hat daraus die Konsequenz entwickelt, dass nach der nun erreichten Einheit nach außen die innere Einheit das große Ziel sei. Dazu braucht es Versöhnung. Die verlangt von denen, die am meisten gelitten haben, noch einmal am meisten. Aber mit weniger wird es nicht gehen.

Brandt empfand es als schmerzhafte Niederlage, dass statt Versöhnung die Abrechnung mittels der Stasiunterlagenbehörde getreten ist.

Ich habe das Gefühl, das Klima in Deutschland ist unwirtlicher, kälter, aggressiver geworden. Wenn man allein an die Kampagnen gegen Rot-Rot-Grün in Thüringen und die Hetze und Drohungen gegen Linkspolitiker denkt ...

Was sich hier abspielt, wundert mich nicht. Ich kann mich nur wundern, wenn Herr Gauck eine absolut demokratische Wahl nicht anerkennt. Oder bezweifelt oder bekrittelt. Während in Köln schreckliche Pogrome stattfanden. Der Aufmarsch der Rechtsextremisten und Salafisten wäre auch ein präsidiales Wort wert gewesen. Nein, man versucht, Menschen unsicher zu machen, um vielleicht doch noch zu erreichen, dass das unzweifelhafte Ergebnis einer legalen Wahl nicht umgesetzt wird.

Ich fand Gaucks Einmischung auch insofern sehr verwunderlich, ja schäbig, weil er vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten um Stimmen der Linken buhlte und bettelte.

Als der norwegische König aus dem Exil kam, verkündete er: »Ich bin auch der König der Kommunisten.« Als Gauck gewählt war, hätte er zumindest sich sagen müssen: »Ich bin auch der Bundespräsident der Linken.«

Glauben Sie, dass eine rot-rot-grüne Regierung in Thüringen ein außen- und sicherheitspolitisches Risiko für Deutschland ist, wie die Bundeskanzlerin meint?

Natürlich nicht.

Wie standen Sie 1956 zum KPD-Verbot in der Bundesrepublik und wie heute?

Ich war der Auffassung, dass es falsch ist. Und zwar deshalb, weil man zwar eine Partei verbieten kann, aber den Menschen nicht ihre Überzeugungen. Und warum sollte diese Bundesrepublik Deutschland in der Mitte Europas das einzige Land auf dem Kontinent sein oder bleiben, das nicht auch am linken Rand eine eigene Partei hat?

Immer mal wieder ist aus den Reihen der SPD wie aus der Linkspartei das Begehr nach Fusionierung zu vernehmen. Fänden Sie das gut?

Als Brandt zum ersten Mal Gorbatschow in Moskau traf, schlug Michail Sergejewitsch vor: »Wir sollten eine Arbeitsgruppe bilden, um die Spaltung der Arbeiterbewegung zu überwinden.« Das fand ich sehr mutig von ihm. Und für Brandt und mich gefährlich. Weil das in Deutschland einen Sturm der Entrüstung gegeben hätte. Und so antwortete ich: »Wir sollten uns koordiniert erst einmal um dringlichere Aufgaben bemühen, um Abrüstungsfragen.« Das fand Gorbatschow hervorragend. Und bat Falin und mich, sich der Sache anzunehmen. Die weitere Entwicklung ist dann darüber hinweggerollt.

Ich erinnere mich aber auch, dass Brandt über sich selbst sagte: »Je älter ich werde, um so linker werde ich.« Wenn ich sehe, wohin dieser Kapitalismus treibt, habe ich das Gefühl, dass es bei mir ähnlich ist.

Nach der Wende in der DDR hat Brandt für eine Aufnahme von willigen SED-Mitgliedern in die sozialdemokratische Partei plädiert.

Er sagte in Gotha, dass jedes ehemalige SED-Mitglied, das nicht Dreck am Stecken hat, nicht kriminell war und unser Programm bejaht, erhobenen Hauptes zu uns kommen könne. Das war auch meine Meinung.

Ganz Deutschland redet jetzt über Biermanns »Liedeinlage« im Bundestag. Haben Sie diese gesehen und gehört?

Nein. Ich verübele ihm seine Angriffe auf meinen Freund Lew Kopelew, den ich aus Moskau rausgeholt habe. Pleitgen hatte uns miteinander bekannt gemacht. Kopelew wurde später die Staatsbürgerschaft entzogen. Das ist eine der schlimmsten Strafen, die man einem Russen antun kann. Wir haben später auch seine Frau zu uns geholt. Sie war ganz erstaunt, dass sich die Türen zu den Geschäften von alleine öffneten, wenn man sich ihnen näherte. Doch zurück zu Biermann: In einem miesen »Spiegel«-Interview griff er den großartigen Schriftsteller an, warf ihm Feigheit und Kapitulation vor, weil er nicht in der Sowjetunion geblieben ist, sondern bei uns Asyl gesucht hat. Das war eine Gemeinheit, die ich nicht verzeihen kann.

Mit Biermann wäre die »Friedliche Revolution« wohl nicht friedlich verlaufen. Nachdem die Mauer gefallen ist und er wieder in die DDR zurückkehrte, sang er: »À la lanterne« - ein Lied aus den Julitagen 1789, mit dem sich das geknechtete Volk von Paris die verhassten Aristokraten an die Laterne wünschte. Als Biermann das vortrug, lebten Schreckensbilder aus Ungarn 1956 wieder auf.

Biermann hat Sprachgewalt. Aber ein großer Künstler muss nicht ein guter Mensch sein. Ungarn 1956 beweist: Das 20. Jahrhundert war nicht friedlich. So viele Tote wie im vergangenen Jahrhundert hat es nie zuvor gegeben. Das neue Jahrhundert muss nicht die Schrecken des vergangenen wiederholen. Wir haben es in der Hand.

Das Interview führte Karlen Vesper.

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