Keine einvernehmliche Lösung im Berufungsprozess um Tim H.
Wie im Fall von Lothar König spielen bearbeitete Polizeivideos eine wichtige Rolle / Prozess wird am 19. Dezember fortgesetzt
Im Februar 2011 blockierten in Dresden 20 000 Antifaschisten den damals größten Naziaufmarsch Europas. Dabei kam es auch zu Ausschreitungen zwischen DemonstrantInnen und der Polizei, als diese versuchte, die Blockierer aus einer eingerichteten Verbotszone rund um die Demonstration der Neonazis herauszuhalten. An der Dresdener Bernhardstraße durchbrachen Demonstranten eine Sperrstelle der Polizei. Dem Berliner Tim H. wurde vorgeworfen, dies mit einem Megafon koordiniert zu haben. Die auf Videoaufnahmen zu hörenden Worte »Kommt nach vorne« deutete das Amtsgericht Dresden als Aufruf zu Straftaten gegen die Polizisten.
Obwohl keiner der beteiligten Polizisten Tim H. identifizieren konnte und ein Anwohner sich sogar sicher war, dass Tim H. nicht die Person am Megafon war, verurteilte ihn das Amtsgericht Dresden im Januar 2013 zu einer Haftstrafe von einem Jahr und zehn Monaten. Das Urteil rief bundesweit Empörung hervor. Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) äußerte damals sein »höchstes Befremden« über das Urteil: »Einem Angeklagten ausdrücklich die Taten Anderer anzurechnen und ihn gewissermaßen stellvertretend zu einer knapp zweijährigen Gefängnisstrafe zu verurteilen, ist schon sehr irritierend. Das sind schon eigentümliche Dresdner Justizverhältnisse.«
Nun kam es am Montag zum lange erwarteten Berufungsprozess. Die Verteidigung hatte über andere Verfahren, unter anderem gegen den Jenaer Pfarrer Lothar König und den Geschäftsführer der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/ Bund der AntifaschistInnen (VVN/BdA), Markus Tervooren, entlastendes Videomaterial der Polizei erhalten. Eine Aufnahme, die bereits im ersten Verfahren gegen Tim H. verwendet wurde, war durch die Polizei so zurechtgeschnitten worden, dass mindestens fünf weitere Personen mit Megafonen, die ebenfalls an der fraglichen Situation beteiligt waren, aus dem Video herausgeschnitten wurden. Weiterhin lagen der Polizei drei weitere Aufnahmen vor, die die Konfrontation aus anderen Blickwinkeln zeigen und deutlich machen: Den einen Rädelsführer hat es nicht gegeben. Aus keiner der Aufnahmen wird deutlich, welcher dieser Personen die hörbaren Durchsagen zuzuordnen sind. Ob Ansagen wie »Nach vorne« überhaupt als Aufruf zum Angriff auf die Sperrstelle gewertet werden können ist sowieso fraglich.
Pikanterweise wurden die Videos von den gleichen Beamten bearbeitet, die auch für die Videos im Prozess gegen Lothar König verantwortlich waren. Auch dort wurde eindeutig entlastendes Material der Verteidigung vorenthalten. Königs Verteidigung sprach in diesem Zuge von einer regelrechten »Fälscherwerkstatt«. Gegen die Beamten laufen Ermittlungen wegen Unterschlagung und Verfälschung von Beweismitteln.
Angesichts dieser Umstände war am Montag schnell klar, dass das Urteil vom Januar 2013 gegen Tim H. jeder Grundlage entbehrt. Nach wenigen Minuten zogen sich Richter, Staatsanwältin und Verteidigung am Montag zu Verhandlungen zurück, konnten sich bis zum Mittag aber auf keine einvernehmliche Lösung einigen. Nach der Mittagspause begann deshalb die neue Verhandlung. Tim H.’s Anwälte beantragten daraufhin die Hinzuziehung und Inaugenscheinnahme der bisher vorenthaltenen Videoaufnahmen.
Der Prozess wird am 19. Dezember fortgesetzt.
Am Nachmittag wurden zudem Zeugen angehört, darunter ein 2011 beteiligter Polizeibeamter, der die Situation zwar als besonders kritisch in Erinnerung hat, aber sich lediglich daran erinnern kann, Ansagen über ein Megafon gehört zu haben. Auf die Frage, ob er eine Person, die Tim H. ähnelt, wahrgenommen habe, antwortete er schlicht: »Nein«.
Unterstützer aus Dresden, Jena und Berlin hatten am Morgen vor dem Landgericht demonstriert. Darunter waren auch Politiker von SPD und LINKEN. Im Internet unterzeichneten Hunderte eine Solidaritätserklärung für Tim, darunter die LINKE-Parteivorsitzende Katja Kipping, selbst aus Dresden, Konstantin Wecker und Gregor Gysi. Viele kündigten bereits an, Tim H. auch finanziell für die Strafe und die Prozesskosten zu unterstützen. Auf Facebook schrieb eine Unterstützerin, dass so ein Prozess genauso gut jeden anderen Antifaschisten, der 2011 in Dresden den Naziaufmarsch blockierte, hätte treffen können. Daher sollte Tim nicht alleine auf den Gerichtskosten sitzen bleiben. Auf einer Webseite werden deshalb Spenden gesammelt.
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