»Wir sind dazu bestimmt, im Euro zu bleiben«
SYRIZA-Chefökonom John Milios erklärt, warum Griechenland den Schuldenschnitt braucht und wie seine Partei für die Abkehr vom Sparkurs in Europa sorgen will
nd: Sie haben selbst mehrere Jahre in Deutschland gearbeitet, sind oft hier zu Besuch. Wie bewerten Sie die derzeitigen deutsch-griechischen Beziehungen, insbesondere nach der jüngsten Grexit-Debatte?
Milios: Ich kann nur immer wieder betonen, dass es sehr wichtig ist, dass die Deutschen verstehen, wie die Situation in Griechenland ist. Und dass die Griechen verstehen, dass die extrem neoliberale Austeritätspolitik, die die amtierende Bundesregierung verlangt, wenig mit der deutschen Bevölkerung zu tun hat. Wenn die Menschen gut informiert wären und Verständnis füreinander hätten, so glaube ich, wäre es viel einfacher, die Politik zu ändern. Nicht nur in Griechenland, sondern auch in Deutschland und in ganz Europa. Wir müssen allen klarmachen, dass wir für ein humanes, demokratisches und soziales Europa kämpfen und nicht dafür, Geld zu bekommen, ohne zu arbeiten, wie manche populistischen Politiker behaupten.
Warum braucht Griechenland eine neue Regierung?
Die Regierung unter Antonis Samaras hat behauptet, dass Lohnkürzungen zu höheren Beschäftigtenzahlen führen würden. Die Arbeitslosigkeit steigt jedoch. Unter den jungen Menschen liegt sie bei 60 Prozent. Die Regierung sagte, dass wir Wachstum erreichen, wenn wir Sparmaßnahmen umsetzen. Und wir sehen, dass viele Staaten der Eurozone Stagnation und Deflation erleben, was ein sehr gefährlicher Effekt ist. Die jetzige Regierung sagte auch, dass sie das Schuldenproblem mit Austerität lösen will. Die Kürzungen haben aber zur Erhöhung der Verschuldungsquote geführt. In Griechenland ist das Bruttoinlandsprodukt um ein Viertel gesunken. Das alles zusammengenommen ergibt eine Katastrophe. Wir können so nicht weitermachen.
Was haben Sie vor, sollte SYRIZA nach der Wahl die neue Regierung stellen können?
Zuerst müssen wir die humanitäre Krise bewältigen. Viele Menschen können sich in vielen Bereichen nicht mehr selbst versorgen, sei es in Fragen des Wohnens, der Ernährung oder der Gesundheitsversorgung. Ihnen wollen wir zuerst helfen. Das wird auch einen positiven Effekt auf die Wirtschaft haben.
Wie wollen Sie die ankurbeln?
Wir wollen vor allem kleinere und mittlere Unternehmen unterstützen, die zurzeit finanzielle Verpflichtungen nicht bedienen können - bei den Banken oder Finanzämtern. Die Bedienung der Schulden muss an das Einkommen geknüpft werden. Die Grenze soll bei 30 Prozent des Einkommens liegen. Das soll auch kon᠆trolliert werden. Der Rest der Außenstände soll eingefroren werden, ohne weitere Strafen. Wenn ihre Lage wieder besser ist, sollen die Unternehmer den Rest zahlen.
Wie soll die Arbeitslosigkeit gesenkt werden?
Wir wollen den Arbeitsmarkt stabilisieren. Wir haben Schwarzarbeit und Ausbeutung. Es gibt Unternehmer, die ihre Beschäftigten dazu zwingen sich arbeitslos zu melden und dennoch weiter bei ihnen zu arbeiten. Die Gesetze sollen wieder eingehalten werden. Und wir wollen den Mindestlohn wieder auf das Niveau von 2011 anheben. Er soll von aktuell 586 Euro auf 750 Euro im Monat steigen. Das wird, wie wir wissenschaftlich belegt haben, die Wirtschaft stabilisieren, indem die Nachfrage angekurbelt wird.
Schließlich und uns besonders wichtig ist eine Reform des korrupten Staatswesens. Wir wollen die Zahl der Ministerien von 18 auf 10 reduzieren. Die Verfahren zur Anmeldung eines Gewerbes sollen vereinfacht werden. Wir müssen Privilegien für Politiker und Parteien abbauen. Dazu gehört auch, ein gerechtes, stabiles und transparentes Steuersystem aufzubauen, das auch das Investitionsklima im Land verbessert.
Deutschland ist bekannt für seinen Sozialstaat. Ist er ein Vorbild?
Wir schauen auf das deutsche Modell, wie es unter Brandt oder Kohl aussah. In der Vergangenheit hat Deutschland eine sehr wichtige Rolle gespielt, aber zuletzt mit der Politik von Schröder und der Agenda 2010 nicht mehr so sehr. Das Land will sich von seiner Vergangenheit distanzieren. Aber erst diese Vergangenheit machte die heutige so gute ökonomische Performance möglich, nicht der Abbau des Sozialstaats.
Was wird Ihr Programm kosten?
In unserem Thessaloniki-Programm veranschlagen wir für die Stabilisierung der Einkommen und des Sozialstaates im ersten Jahr 11,5 Milliarden Euro.
Geld, das Griechenland zurzeit nicht hat. Um wieder investieren zu können, fordern Sie einen Schuldenschnitt. Wie soll der aussehen?
Wir sind für eine Umstrukturierung der Schulden. Dafür gibt es verschiedene technische Möglichkeiten. Es hat seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges schon mehr als 100 solcher Schuldenrestrukturierungen gegeben, eine davon war das Programm für Deutschland aus dem Jahr 1953. Was wir vorschlagen, ist also nicht sehr neu oder unbekannt.
Was ist das konkret?
Wir schlagen vor, dass die Europäische Zentralbank allen Eurostaaten jene Schulden abnimmt, die 50 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung übersteigen. Die werden umgewandelt in Anleihen, die nicht verzinst werden. Mit der Zeit verlieren sie an Wert. Die Regierungen kaufen sie dann zurück, wenn sie nicht mehr als 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachen. Mit unserer Lösung verliert niemand Geld bis auf die Zentralbank. Sie übernimmt die Bürgschaft über eine Billion Euro. Aber nach 40 bis 60 Jahren gibt es wieder Profite.
Warum sollten andere Länder einem solchen Schuldenabbau zustimmen?
Auch Deutschland hat Staatsschulden. Zurzeit sind die Zinsen sehr niedrig. Aber Deutschland kämpft wie viele andere europäische Länder auch mit sehr geringen Wachstumsraten. Das kann also nicht lange gutgehen. Das Rentensystem wird zum Problem werden.
Davon abgesehen: Die Schuldenproblematik ist eine politische Frage. Wir müssen uns entscheiden, ob wir für ein soziales Europa sind oder die Austeritätspolitik fortsetzen wollen, die zu Rezession und Deflation führt.
Sie fordern neue Verhandlungen mit der Troika und der EU nicht nur über die Staatsschulden. Es wird auch um die künftige Ausrichtung der Politik Griechenlands gehen. Wo liegen in Ihrem Programm also die »roten Linien«?
Das Programm, das ich vorgestellt habe, ist unsere rote Linie. Denn es soll die Wirtschaft ankurbeln und Transparenz und Fairness bringen. Wir wollen uns mit den anderen Regierungen in Europa auf bestimmte Ziele einigen, wie etwa fiskalische Balance. Aber der Weg, wie wir diese Ziele erreichen wollen, ist Sache nationaler Souveränität. Das müssen die Griechen entscheiden. Nach der Wahl werden wir nicht mit der Politik des Sparens weitermachen.
Bezüglich der Schuldenproblematik sind wir aber an allen Vorschlägen und technischen Lösungen interessiert, die davon ausgehen, dass die Schulden nicht mehr als Austeritätsmechanismus funktionieren.
Kann Griechenland solch einen Politikwechsel allein einleiten? Welche Unterstützung brauchen Sie?
Wir zählen sehr auf die Unterstützung der progressiven Kräfte in ganz Europa, besonders von den linken Kräften und Medien. Aber auch von allen anderen, die begreifen, dass die Kürzungspolitik versagt hat.
Regierungs- und Staatschefs der EU wie Frankreichs Präsident François Hollande und Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi verlangen ebenfalls wachstumsfördernde Maßnahmen. Ihnen ist es aber bisher nicht gelungen, etwas am Sparkurs in Europa zu ändern. Könnten solche Politiker dennoch Partner einer SYRIZA-geführten Regierung werden?
Diese beiden Mitte-links-Politiker treffen leider sich widersprechende politische Entscheidungen. Einerseits wollen sie den Stabilitätspakt verändern und Wachstum fördern. Andererseits stimmen sie mit Merkel und den anderen extrem neoliberalen Politkern überein, etwa beim Abbau von Arbeitnehmerrechten. Indem sie einen Teil der einen wie der anderen Politik verfolgen, versagen sie. Aber wir denken, dass wir in gewissen Punkten, zu denen wir konvergierende Ansichten haben, Allianzen mit einigen von ihnen eingehen könnten.
Das würde aber erfordern, dass Griechenland weiter mitbestimmen darf, etwa über den Euro. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass Griechenland aus dem Euro ausgeschlossen wird?
Wir sind dazu bestimmt, im Euro zu bleiben. Denn wir wissen, dass wir die Einkommen und das Eigentum der Mehrheit der griechischen Bürger schützen müssen. Die Einführung einer neuen Währung würde zu einem massiven Wertverlust der Vermögen der Menschen führen. Außerdem ist es quasi unmöglich für ein Land, den Euro zu verlassen, ohne dass die gesamte Eurozone zerfällt. Das hat selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel vor einem Jahr in einem Zeitungsinterview gesagt. Denn eine Währungsunion wie die Eurozone ist etwas ganz anderes als eine Region mit festen Wechselkursen. Wenn also ein Land die Eurozone verlässt, würden die Märkte mit Kreditausfallversicherungen auf Ausstiege weiterer Länder spekulieren. Das würde die Eurozone nicht lange überleben.
Es gibt jedoch in den Reihen von SYRIZA - etwa in der »linken Plattform« - immer noch Stimmen, die einen Euro-Austritt Griechenlands favorisieren? Wie gehen Sie innerparteilich mit der Frage um?
Das ist eine Diskussion der Vergangenheit. Aktuell ist die große Mehrheit in der Partei wegen der eben genannten Gründe gegen den Austritt aus dem Euro.
War die Grexit-Debatte also gut für SYRIZA oder zumindest nicht schädlich?
Ich denke, sie war zuallererst Propaganda der konservativen Kräfte, um die griechischen Wähler zu terrorisieren. Und als sie sahen, dass es nicht zum Grexit kommen würde, haben sie den Kurs geändert. Aber ich muss daran erinnern, dass eine solche Terrorkampagne bei den letzten Wahlen im Juni 2012 erfolgreich war. SYRIZA verlor damals die Wahl hauptsächlich, weil viele Menschen über 60 Jahre der Propaganda glaubten, dass SYRIZA das Land in Schwierigkeiten bringen würde. Diese Debatte destabilisiert auch die Glaubwürdigkeit der EU als Ganzes. Es ist gut, dass sie jetzt aufhört.
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