Kritiker nehmen kein Blatt vor den Mund
Regierungspartner loben eigenen Start, doch einen Paradigmenwechsel gibt es bisher nur in der Flüchtlingspolitik
Ziemlich genau 100 Tage nach dem Regierungswechsel in Thüringen ist der Weg nach Berlin noch immer frei. Nicht mal an den Straßen nach Bayern sind wieder Grenzkontrollen eingerichtet worden. All die Schreckensszenarien sind ausgeblieben, die die Gegner des Dreierbündnisses aus LINKE, SPD und Grünen unmittelbar vor der Wahl von Bodo Ramelow zum ersten LINKE-Ministerpräsidenten Deutschlands am 5. Dezember 2014 vorausgesagt hatten. Gleiches allerdings gilt für viele der Hoffnungen, die mit dem Amtsantritt des Mitte-Links-Bündnisses verbunden gewesen sind - weil sie von Rot-Rot-Grün selbst geweckt worden waren.
Die Vorsitzenden der an dem Bündnis beteiligten Parteien sehen das freilich anders. Jedenfalls, was die Hoffnungen betrifft. Als die Chefs von Thüringer LINKE, Sozialdemokraten und Grünen am Freitag in Erfurt in genau jenem Raum erneut zur Pressekonferenz zusammenkommen, in dem sie im November ihren Koalitionsvertrag vorstellten, loben sie alle die bisherige Arbeit der Koalition. »Ich kann konstatieren, dass der Politikwechsel gelungen ist«, sagt zum Beispiel die LINKE-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow. Auf die Frage, was nicht so gut gelaufen sei in den vergangenen drei Monaten, sagt sie: Die Übergabe so manchen Ministeriums aus CDU-Hand an den Nachfolger oder die Nachfolgerin. Punkt.
Viele Menschen in Thüringen teilen diese Bewertung nicht. Diejenigen, deren Leben in der Hauptsache außerhalb der Landespolitik passiert, sind nach dem spätherbstlichen Hype um r2g - wie das Bündnis in der digitalen Welt abgekürzt wird - zu ihrem Alltag zurückgekehrt, in dem es ziemlich egal ist, wer in der Staatskanzlei sitzt. Und diejenigen, deren Berufsleben viele Berührungspunkte mit der Landespolitik hat, zoffen sich mit der neuen Regierung genau so wie zu jenen Zeiten, als die Union im Land die politische Agenda dominierte. Meistens geht es dabei ums Geld.
Die Vertreter der Städte, Gemeinden und Landkreise beispielsweise sind auch mit dem unzufrieden, was ihnen Rot-Rot-Grün als zusätzliche Mittel aus dem Landeshaushalt geben will. Ähnliches lässt sich von den Vertretern der freien Schulträger sagen. Oder von den Gewerkschaften, deren Spitzenvertreter Rot-Rot-Grün im Streit um ein Bildungsfreistellungsgesetz jüngst vorwarfen, bei diesem Thema »wie alle bisherigen Landesregierungen als Tiger gesprungen und als Teppichvorleger der Wirtschaft gelandet« zu sein.
Nur eine Ausnahme gibt es: Beim Umgang mit Flüchtlingen schlägt Rot-Rot-Grün tatsächlich nicht nur andere Töne an als die Vorgängerregierung. Die nun nicht mehr ganz Neuen handeln wirklich auf andere Art. Dass eine der ersten Amtshandlung des Ramelow-Kabinetts der Erlass eines Winterabschiebestopps für Flüchtlinge war und dass die LINKE-geführte Regierung von Anfang an offen für die Errichtung einer dritten Erstaufnahmeeinrichtung des Lands warb, steht für einen Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik des Freistaats.
Zu deutlich mehr Akzeptanz von Fremden in der Mitte Deutschland hat das allerdings nicht geführt. Als Migrationsminister Dieter Lauinger (Grüne) vor etwa einer Wochen in Gera auf einer Einwohnerversammlung erklären wollte, warum ausgerechnet dort das weitere Flüchtlingsheim entstehen soll, sah er sich Transparenten und Sprechchören gegenüber, die klar machten, dass die Mehrzahl der Menschen im Umfeld des geplanten Heim dort keinesfalls Flüchtlinge haben will.
Nicht nur für die Flüchtlingspolitik von LINKE, SPD und Grünen ist das eine herbe Niederlage. Sondern auch für den Politikstil, den sich die Partner verordnet haben: »In einen Dialog mit den Menschen« treten, um sie bei allen Entscheidungen »mitzunehmen« und »einzubinden«. Eine längst nicht so drastische, aber für den rot-rot-grünen Vorsatz »Mit allen über alles reden« ähnlich desaströse Erfahrung hatte nur Tage davor Bildungsministerin Birgit Klaubert machen müssen. Während einer Diskussion über das zukünftige Berufsschulnetz im Land musste sich Klaubert Zweifel an dem Dialog-Konzept anhören, von den Berufsschul-Betroffenen selbst. Das Land müsse in diesem hochumstrittenen Feld Entscheidungen treffen, statt nur zu moderieren, hieß es. Ohne Durchgreifen von oben würden sich die vielen regionalen Befindlichkeiten nie ausräumen lassen. Bezeichnenderweise widersprach die LINKE-Politikerin dem Ruf nach dem starken Staat. Sie setze, sagte sie, »gerne auf den mündigen und aufgeklärten Bürger«.
Nach 100 Tagen Rot-Rot-Grün in Thüringen steht deshalb nicht mehr so sehr die Frage im Raum, was die drei Parteien mit dem Land machen. Die eigentliche Frage ist, was die Regierungsverantwortung mit den drei Parteien macht.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.