Um Himmels Willen, Europa!
Gabi Zimmer sieht 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein Wiedererstarken von Nationalismus und Rassismus
Fast hat sie sich erfüllt, Jorge Semprúns Voraussage aus dem Jahr 2005, bald werde es keine unmittelbare Erinnerung, kein direktes Zeugnis, kein lebendiges Gedächtnis mehr geben, das Erlebnis jenes Todes werde zu Ende gegangen sein.
70 Jahre nach der Befreiung der Völker Europas vom Hitlerfaschismus haben uns die Überlebenden Unüberhörbares mit auf den Weg gegeben: den Aufruf zu Mitmenschlichkeit, zum Widerstand gegen jede rassistische, antisemitische, ausländer- und frauenfeindliche wie homophobe Ausgrenzung und Attacke; die Hoffnung, diese Botschaft an die jüngeren Generationen weiterzugeben, da sie, die Überlebenden, es absehbar nicht mehr tun können.
Dazu gehört auch, sich aktiv gegen einen aggressiv propagierten und schleichenden Geschichtsrevisionismus zu wehren. Das Anwachsen nationalistischer und ausländerfeindlicher Bewegungen in Europa, Neonaziangriffe auf 1.-Mai-Kundgebungen, martialische Aufmärsche in europäischen Städten - rechtsextremer Nationalismus findet wieder seinen Nährboden. Zu oft ziehen Politiker die nationale Karte. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán fordert die Wiedereinführung der Todesstrafe und stärkt ausländerfeindliche und rassistische Stimmungen in seinem Land. Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten weigern sich, mehr Flüchtlinge aufzunehmen und erwecken den Eindruck, vor allem die Schlepperboote seien zu zerstören, um wieder Ruhe vor Europas Grenzen zu erreichen. Im Streben um nationalistische Wählerpotenziale übernehmen regierende Parteien immer mehr solche Positionen. Verwundert es noch, dass die Kommission ihren Plan für eine europäische Migrationspolitik erst nach der Wahl in Großbritannien präsentieren will?
Aus Angst vor reaktionären und rassistischen Äußerungen verzichtete das Europaparlament auf Plenardebatten, um an den Beginn des Zweiten Weltkrieges oder an 70 Jahre Befreiung von Auschwitz zu erinnern. Zum Geschichtsrevisionismus gehört auch, dass selbst in Erklärungen führender deutscher Regierungspolitiker die Befreiungstat der Sowjetarmee nur noch beiläufig, wie ein Betriebsunfall, erwähnt wird.
Heute über die Lehren aus dem Faschismus, den Verbrechen gegen die Juden, gegen die Menschen in vielen europäischen Ländern zu reden, heißt auch, an Ideen und Visionen von einem geeinten Europa zu erinnern. Ideen, wie sie im Manifest von Altiero Spinelli fixiert wurden. Ein geeintes Europa auf Basis gemeinsamer Werte wie gegenseitiger Respekt, Wahrung der Menschenrechte aller in Europa lebenden Menschen, Solidarität, nachhaltige Entwicklung von Wirtschaft, Sozialem und Ökologie - diese Vision des gemeinsamen Europas haben die Regierenden in der EU spätestens in dem Moment verraten, als sie globale Konkurrenzfähigkeit zur politischen Priorität erhoben. Als sie sich anschickten, die Solidarität mit Banken wie Konzernen, die Privatisierung des Öffentlichen als Prinzip und Kürzungsorgien für öffentliche Ausgaben als Mantra zu betrachten. Als sie den Menschen in Südeuropa die Schulden der Finanzkrise aufzwangen. Als sie die Ungleichheiten zwischen ökonomisch starken und schwächeren EU-Staaten und innerhalb der Länder wissentlich beförderten. Als sie sich weigerten, die fatalen Folgen zu korrigieren.
Die EU ist dabei, sich selbst aufzugeben. Wen die humanitäre Katastrophe in Griechenland nicht beeindruckt, wer die von einer Mehrheit unterstützte linke Regierung demütigen und zum Scheitern bringen will, sollte aufhören, von europäischen Werten zu reden. Denn sie wissen, was sie tun. Sie nehmen den drohenden Aufwind der griechischen Faschisten in Kauf. Wer 70 Jahre nach Kriegsende nicht bereit ist, Verantwortung für das Wüten der Wehrmacht und SS in Griechenland zu übernehmen und über Reparationsforderungen mit den Griechen zu reden, sollte sich wohlfeile Reden verkneifen. Sie könnten als pure Heuchelei empfunden werden.
Was also ist das, was uns stattdessen Menschen wie Stéphane Hessel mit seinem Aufruf »Empört Euch« oder Manolis Glezos, der auch durch mehrfache Haft und Folter nicht zu brechen war, als Botschaft hinterlassen? Es ist ihre Überzeugung von der Kraft des Widerstands und der Solidarität, von der Mitmenschlichkeit. Wer es nicht für möglich hält, sollte am 8. Mai abends ins Berliner Babylon kommen, wenn Manolis Glezos und Beate Klarsfeld ihrerseits die Befreier ehren und sich mit dem Faschismus auseinandersetzen.
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