»Es geht um die Existenz«
Vor dem Bundesparteitag herrscht Chaos bei der »Alternative für Deutschland«
Vielleicht werden die Historiker dereinst im Rückblick feststellen, dass die AfD eine objektiv fortschrittliche Rolle spielte. Die NPD konkurrierte sie in den parlamentarischen Abgrund, die FDP schwächte sie erheblich, vielleicht gar tödlich. »Schließlich zerlegte die AfD sich selbst«, wird vielleicht künftig in den Geschichtsbüchern stehen. Kurz vor dem am Wochenende in Essen stattfindenden Parteitag sieht es jedenfalls nicht gut aus für die einst so selbstbewusst gestartete Partei. In Umfragen dümpelt sie zwischen vier und fünf Prozent. Keine Rede mehr von jenen acht und mehr Prozent, die Demoskopen der von Wirtschaftsliberalen, Rechtskonservativen sowie Nationalisten getragenen Partei vor einem Jahr prognostizierten.
Der Streit, er wird teils offen, teils in Hinterzimmern ausgetragen. Parteipromis distanzieren sich voneinander unter Benutzung wüstester Schimpfwörter. Der einstige Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, ironischerweise so etwas wie ein Seriositäts-Garant der rechten Truppe, trat vom Amt des Parteivize zurück. Und der für Mitte Juni geplante Kasseler Parteitag musste »aufgrund der juristischen Bedenken des Bundesschiedsgerichts« abgesagt werden.
Chaos pur. Nun also Essen.
Längst entstehen Parallelstrukturen neben der AfD, in denen manche die Grundlage einer potenziellen neuen Partei sehen, falls Noch-Parteichef Bernd Lucke in Essen nicht zum Alleinherrscher gekürt werden sollte. Der Wirtschaftsprofessor organisiert seine Leute in einem Verein namens »Weckruf 2015«. Von einem Kungel-Treffen tauchte ein Tonbandmitschnitt auf, der Lucke als intriganten Tölpel erscheinen lässt. So ziemlich jede taktische und strategische Absprache des sogenannten »liberalen« Parteiflügels ist dadurch nachvollziehbar.
Am Donnerstag machte der Landesvorsitzende des gastgebenden nordrhein-westfälischen Landesverbandes auf Dramatik. »Es geht um die Existenz dieser AfD«, verriet Markus Pretzell »Zeit-Online«. Gleichwohl wisse dies auch jeder. Der Parteitag werde die AfD daher beruhigen.
Pretzell spekulierte auch über Ersatz für den Fall, dass Lucke nicht gewählt werden sollte: Joachim Starbatty oder Jörg Meuthen, wie Lucke Ökonomen mit Hang zu skurrilen Formen des Wirtschaftsliberalismus. Pretzell plädiert allerdings für eine mehrköpfige Spitze, der auch Frauke Petry als Co-Vorsitzende angehören soll. Dabei hatte der letzte Parteitag eigentlich mit Zwei-Drittelmehrheit beschlossen, dass künftig ein erster Vorsitzender (oder eine erste Vorsitzende) statt dreier Parteichefs die AfD lenken soll. In Stein gemeißelt ist dieser Beschluss offenbar nicht - jedenfalls nicht für Petry-Mann Pretzell, der sich auf das mächtige und eigensinnige Bundesschiedsgericht seiner Partei berufen kann. Das Gremium kassierte die neue Satzung ein.
Vielleicht wird in Essen also erneut über grundsätzliche Strukturfragen entschieden. Lucke will das verhindern, das geht aus dem Tonbandmitschnitt hervor. Strukturfragen sind bekanntlich Machtfragen, Parteistrukturen sind Ausdruck und Quelle von Machtverhältnissen.
Gegen den AfD-Parteitag formiert sich Widerstand in der Ruhrmetropole. Das Bündnis »Essen stellt sich quer« will »das nationalistische Theater« durch Blockaden zumindest be-, wenn nicht verhindern. Die AfD-Gegner treffen sich am Sonnabend vor der U-Bahnstation Messe Ost. Doch wahrscheinlich wäre es am klügsten, den Parteitag einfach über die Bühne gehen zu lassen. So würde man der AfD wohl am meisten schaden. Dass die internen Gefechte weitergehen, darf als ausgemacht gelten. Ein tragfähiger Kompromiss ist ausgesprochen unwahrscheinlich beim derzeitigen Stand der Konfrontation. Ein Lager wird gewinnen, eines wird verlieren, sich aber keineswegs geschlagen geben.
Auch in der Gastgeberstadt des Bundesparteitages ist die AfD alles andere als gut aufgestellt. Zwar zog sie im Mai des letzten Jahres zu dritt und somit in Fraktionsstärke in den Essener Stadtrat ein. Doch ein Ratsherr musste gehen, weil er Gelder veruntreut haben soll. Einer verließ die Fraktion, da er die »Chaostruppe« AfD nicht mehr ertragen konnte, einer warf der lokalen Parteispitze einen »Schulterschluss mit Rechtsextremisten« vor und sagte ebenfalls ade. Seite 20
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