Dem neuen Europa Inhalt geben
Grexit? Die Linkspartei darf sich nicht aus dem Diskurs über ein »anderes Europa« verabschieden. Ein Plädoyer, endlich die Hausaufgaben zu machen
»DIE LINKE will die Europäische Union zu einer wirklichen Solidargemeinschaft entwickeln. Wir treten für ein europäisches Sozial- und Solidarsystem ein, durch das der Wert eines gemeinsamen europäischen Handelns für die in der EU lebenden Menschen sichtbar wird. (…) Wir wollen mehr Demokratie in der EU. Wir wollen eine Europäische Union, die den Menschen eine tragfähige Perspektive für Frieden und sozialen Fortschritt bietet und der jungen Generation ihre Zukunft ermöglicht. Eine solche EU ist auf der Grundlage der bestehenden Verträge nicht entwickelbar. Sie müssen dringend grundlegend erneuert werden. Unsere Kritik am Zustand der Europäischen Union führt zu unserem Engagement für ein anderes, ein sozialeres, ökologischeres, demokratischeres und friedlicheres Europa. Die EU muss neu begründet werden.«
Mit diesen Kernthesen ging DIE LINKE in den Wahlkampf zu den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014. Spitzenkandidat der Europäischen LINKEN im letzten Jahr war der heutige griechische Ministerpräsident, Alexis Tsipras. Die Frage, wie man es mit Europa und vor allem mit der europäischen Integration halten soll, war und ist dabei in der LINKEN in Deutschland durchaus umstritten.
Der Grexit als Wille und Vorstellung
Gerade in der Debatte um das dritte Rettungspaket für Griechenland ist deutlich geworden, wie unterschiedlich die Positionen innerhalb der LINKEN sind. Nicole Gohlke und Janine Wissler werben unter der Überschrift »You can’t be pro-EU and anti-austerity« dafür, sich nicht länger positiv auf das Projekt eines geeinten Europas zu beziehen.
»Es ist an der Zeit, dass wir die EU-Politik zum Gegenstand der real existierenden sozialen Kämpfe in den verschiedenen Mitgliedsstaaten machen, statt abstrakt von einer «sozialen EU» zu sprechen, für die es in absehbarer Zeit keine Bewegung geben wird. Unsere Politik muss dazu beitragen, gesamteuropäische Netzwerke und Solidarität zwischen den politischen AkteurInnen und den politischen AktivistInnen in europäischen, nationalen, regionalen oder kommunalen Bewegungen zu schaffen, zu erhalten und zu vertiefen. Nach der Unterwerfung Griechenlands unter das Diktat der Institutionen ist es unwahrscheinlich und unangemessen zu erwarten, dass sich die GenossInnen in der Europäischen Linken weiterhin positiv auf den Euro oder die EU beziehen, denn die Mitgliedschaft in der Eurozone hat sich als Erpressungsinstrument für die Durchsetzung von Austeritätspolitik entpuppt.«
Halina Wawzyniak hält ihnen mit Recht entgegen, dass es gerade jetzt darum ginge, konkrete politische Alternativen für eine europäische Integration zu entwickeln und diese mit den sozialen Kämpfen in den einzelnen Mitgliedsstaaten zu verbinden.
»Es muss vielmehr darum gehen endlich zu untersetzen, wie wir uns eine EU grundsätzlich und gegen das Diktat nationalstaatlicher Regierungen vorstellen. (…) Wir sollten endlich daran gehen zu überlegen, wie die EU institutionell und demokratisch verfasst sein soll. Wollen wir eine Transferunion? Wollen wir gleiche Sozial- und Lohnstandards? Wollen wir ein Europäisches Parlament mit den umfassenden Rechten eines Parlamentes, vor allem eigener Gesetzgebungszuständigkeit? Wollen wir die EU-Kommission, so wie sie jetzt ist, und wenn nicht, welche Rolle soll sie zukünftig spielen und wie zusammengesetzt sein? Was halten wir von den Ideen für einen eigenen Haushalt der Eurozone, einen europäischen Finanzminister und europäische Steuern grundsätzlich und im Hinblick auf die derzeitige Verfasstheit der EU?«
Es gibt kein Außen mehr, kein Drinnen und Draußen mehr.
JA, es ist zu konstatieren: DIE LINKE hangelt sich von Moment zu Moment, ohne ihre grundsätzliche Haltung zu den europäischen Institutionen, aber auch zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion geklärt zu haben. Nun mag es für eine linke, pluralistische Partei normal und angemessen sein, dass sie zu inhaltlichen Themen widerstreitende und unterschiedliche Positionen vertritt. Das Dilemma besteht aber darin, dass DIE LINKE derzeit mit all ihren unterschiedlichen Positionen in der öffentlichen Debatte kaum wahrgenommen wird. Schon jetzt lässt sich das im Detail gut beobachten. Während Sven Giegold immer wieder als kompetenter Verteidiger griechischer Interessen im Europäischen Parlament wahrgenommen wird, der sich fakten- und kenntnisreich sowie kritisch auch mit Positionen auseinandersetzt, die der griechischen Regierung immer wieder mangelnde Verhandlungsbereitschaft unterstellen, ist von der LINKEN hier weniger zu hören.
Natürlich stimmt die Kritik von Gregor Gysi von 1998 zur Einführung des Euro noch immer, ja sie hat sich im Kern bestätigt:
»Wer europäische Integration will, muß europäische Angleichungsprozesse einleiten. Dazu würde gehören, die Steuern zu harmonisieren, die Löhne und Preise anzugleichen und auch soziale, ökologische und juristische Standards anzugleichen.«
Wer aber Gysis Rede komplett liest, wird das Gefühl nicht los, dass schon damals die PDS nicht wirklich entschieden war in der Frage, wie viel europäische Integration sinnvoll ist. Wiewohl in der Rede zurecht kritisiert wurde, dass das Europäische Parlament keine Entscheidungskompetenzen hatte, und auch wenn begründet vor der Währungsunion die Angleichung der Wirtschafts- und Sozialsysteme gefordert wurde, schwingt in der Rede auf der anderen Seite eben auch die Angst mit, Deutschland könne zu viel Souveränität verlieren oder an Europa abgeben.
»Mit der Demokratiefrage hängt übrigens auch zusammen, daß Finanz- und Geldpolitik kaum noch möglich sein werden. Die Zuständigkeit hierfür wird an die Europäische Zentralbank abgegeben. Sie wird dadurch anonymisiert. Damit wird erreicht, daß sich die Regierungen herausreden können, indem sie es auf die Bank schieben, und erklären können, daß sie keine politischen Spielräume haben, weil die Europäische Zentralbank bestimmte Vorgaben gemacht hat.«
Aber das ist doch genau der Punkt: Wer europäische Integration ernst meint, muss auch darüber diskutieren, wer welche Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse erhält, wie Europa also demokratisch verfasst sein soll? Freilich ist diese Debatte nicht mal eben so zu einem Ergebnis zu bringen. Aus deutscher Sicht muss etwa erwogen werden, wie die kommunale Selbstverwaltung zu sichern ist und welche Rolle Bundesländer und Bund künftig spielen sollen.
Im Übrigen: Auch den tausenden deutschen linken KommunalpolitikerInnen dürften Parallelen ihrer eigenen Praxis durch den Kopf gegangen sein, wenn sie die Verhandlungen – eher: die unverschämten Erpressungen – der Vertreter der Eurogruppe gegenüber der griechischen Regierung in den Medien verfolgt haben. Haushaltsgenehmigungen und Kredite nur bei Kürzung sozialer Leistungen, bei Personal- und Infrastrukturabbau sind durchaus gängige, wenn auch glücklicherweise nur selten menschenrechtlich existenzielle Methoden bundesdeutscher Kommunalaufsicht. Doch selten haben wir davon gehört, dass linke KommunalpolitikerInnen daraus den Schluss gezogen haben, sich dieser ungemütlichen Situation nicht mehr auszusetzen, die kommunale Struktur aufzulösen oder gar auf kommunale Subsistenz zu setzen, jedenfalls für ihre Leute »vor Ort« nicht aus »der ganzen ökonomischen Scheiße« (Marx) nicht doch irgend etwas rauszuholen, wenn sie denn auch natürlich wieder von vorn beginne.
Wie dem auch sei: Am Ende wird – davon sind wir überzeugt – die Linke in die Debatte praktisch einsteigen müssen, welche (nicht etwa: ob) wir Kompetenzen zur effizienten sozialstaatlichen Re-Regulierung auf europäischer Ebene sehen wollen.
Kein Selbstmord aus Todesangst
Viel wird über die Kräfteverhältnisse in Europa geschrieben und diskutiert. Bei den letzten Auseinandersetzungen ist überdeutlich geworden, dass die Linke sich nicht nur in Deutschland politisch in der Defensive befindet. Für uns heißt das vor allem, unsere eigenen Hausaufgaben zu machen.
Indes ist die Forderung, die besonders in dem Beitrag von Gohlke und Wissler nach einem Abschied von einem politischen Projekt für Europa durchscheint, dafür kein Beitrag, der aus der Defensive bringt. Das beginnt schon damit, dass dort lapidar behauptet wird, für ein Ende der Austeritätspolitik könnten die Folgen eines Euro-Ausstiegs durchaus in Kauf genommen werden, ohne eine substantiierte Auseinandersetzung mit den gravierenden und gefährlichen ökonomischen und politischen Wirkungen eines solchen Schritts zu versuchen. Darüber hinaus ist der Kurs auf den Austritt Griechenlands aus dem Euroraum auch mit einem gefährlichen Voluntarismus verbunden, der sich an folgendem zeigt: Selbst unter extremer sozialer Krise, unter teilweise existenzieller Not ganzer Bevölkerungsgruppen in Griechenland votieren nicht etwa diese mehrheitlich für Parteien, die den Austritt Griechenlands aus dem Euro befürworten, sondern weiterhin – und auch nach den Verhandlungen der Institutionen mit der SYRIZA-Regierung – mit deutlicher Mehrheit für den Verbleib des Landes im Euroraum. Und es ist nicht vermessen zu behaupten, dass das OXI des Referendums nur deshalb so deutlich war, weil es unzweifelhaft gekoppelt war an einer Fortgeltung der Währung Euro. Umgekehrt: Hätte Tsipras im Referendum sich in der Tat auf die – von der Eurogruppe als solche sogar unterstellte – Alternative, wonach ein OXI ein »Nein zum Euro« bedeute, eingelassen, wäre dieses OXI keineswegs sicher gewesen, sondern vielmehr wahrscheinlich, dass die Mehrheit der griechischen Bevölkerung sich anders entschieden hätte. Weiter: SYRIZA konnte den wahlpolitischen Aufstieg nur erreichen, weil sie sich – durchaus in Abgrenzung zu anderen Parteien des griechischen linken Spektrums – immer positiv auf die Fortsetzung der europäischen Integration und den Verbleib des Landes in der Eurozone bezogen hat. Es soll hierbei nicht unerwähnt bleiben, dass die größte Quellpartei von SYRIZA, die eurokommunistische Partei »Synaspismos« bereits 2000 für eine EU-Verfassung eintrat. »Synaspismos« war die einzige Partei in der Fraktion GUE/NGL, deren Europaabgeordnete am 14. November 2000 geschlossen für die Europäische Grundrechtecharta gestimmt hatten. Auch der Europäische Verfassungsvertrag wurde anfangs eher gutgeheißen. Auch, nachdem 2004 die EU-Verfassung scheiterte, sah der Vorsitzende von »Synaspismos«, Alekos Alavanos, als wichtigstes Element des Referendums in Frankreich, »dass die Völker und die Bürger sich jetzt aktiv in den Prozess der Europäischen Vereinigung« einbringen. Das »Nein« sei ein »Ja« zu Europa. Erst die Einmischung der europäischen Bevölkerungen mache ein anderes Europa möglich. (Wagener, Der Vertrag über eine EU-Verfassung die Position linker Parteien, Uni Potsdam, 2006) Das bedeutet: Die Integration Griechenlands in die EU ist nicht lediglich ein Elitenprojekt oder ein Projekt der kurzschlüssigen Entscheidungen von korrupten Oligarchen, sondern ein durchaus tief verwurzelter Wunsch in weiten Teilen der griechischen Bevölkerung, die selbst in drastischen Krisenzeiten die politischen Anschauungen hegemonisiert. Ein Austritt aus der Eurozone – und damit auch faktisch ein Platz am Spielfeldrand der EU – wäre damit nicht nur ökonomisch verheerend, sondern würde auch auf erheblichen emotionalen Widerstand in der Bevölkerung treffen. Das ist der Grund, weshalb die Linke nicht illusionäre Reißbretter, sondern reale politische Gegenstände gestalten sollte. Will heißen: Aus den kritisierten Verhältnissen kann man nicht aussteigen, sondern wir müssen in sie eingreifen, um sie ändern. Das bedeutet, dass es bei Lichte betrachtet für die Linke gar nicht mehr um die Frage des »Ob« der europäischen Integration, sondern um die Frage des »Wie« gehen kann, nämlich der Möglichkeiten, zu einer vertieften Integration zu gelangen, die aber eben eine andere Grundrichtung vornimmt – die des wirtschaftlichen Wachstums und Kooperation, des sozialen Ausbaus und Kompatibilität sowie der demokratischen Souveränität.
Die Wirtschafts- und Währungsunion auf der Kippe
Es gibt allerdings Beiträge zur Vertiefung der europäischen Integration. Nur kommen sie leider nicht von links. Unter der Überschrift »Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden« legen Juncker, Tusk, Dijsselbloem, Draghi und Schulz ihre Vision einer Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion vor. Leider ist es vor allem erneut eine Vision der ökonomischen Eliten Europas, die da zur Debatte gestellt wird und die einen Hauptmangel hat.
Noch immer ist in Brüssel die Erkenntnis nicht angekommen, dass es der Europäischen Union an der notwendigen demokratischen Legitimation und vor allem an der Bereitschaft fehlt, endlich die Angleichung von Lebensverhältnissen innerhalb der Europäischen Union anzugehen. So entwerfen die Autoren eine technokratische, von den konkreten Problemen abstrahierende Vision Europas und leiten aus den Erfahrungen der Finanzkrise ab, dass Europa nun eine echte Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalunion bräuchte.
»Europas Wirtschafts- und Währungsunion bietet momentan das Bild eines Hauses, an dem jahrzehntelang gebaut wurde, das aber nur teilweise fertiggestellt ist. Mitten im Sturm mussten Mauern und Dach rasch befestigt werden. Jetzt ist es höchste Zeit, die Fundamente zu verstärken und die WWU zu dem zu machen, was sie eigentlich sein sollte: ein Ort des Wohlstands, der auf einem ausgewogenen Wirtschaftswachstum und stabilen Preisen beruht, sowie auf einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt angelegt ist. Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, müssen wir weitere Schritte ergreifen, um die WWU zu vollenden. Der Euro ist mehr als nur eine Währung. Er ist ein politisches und wirtschaftliches Projekt.«
Damit wird schon zum Auftakt verkannt, welche Folgen die allein auf Haushaltskonsolidierung und Schuldenabbau gerichtete Politik in Europa hatte. Die Sanierung des Hauses Europa erfolgte zu Lasten eines großen Teils derer, die in dem Haus leben, und einige drängt es offenbar eher nach Auszug. Immerhin erkennt das Papier an, dass sich auch die europäische Politik mehr und umfassender den Themen »Beschäftigung und Soziales« widmen muss:
»Die Beschäftigungssituation und die sozialen Lage sind innerhalb des Euro-Währungsgebiets hochgradig unterschiedlich, was zum Teil der Krise zuzuschreiben ist, darüber hinaus aber auch auf grundsätzliche Trends und eine unzureichende Wirtschaftsleistung vor der Krise zurückzuführen ist.
Europas Ambition sollte es sein, im sozialen Bereich ein ‚AAA‘-Rating zu verdienen. Auch wirtschaftlich ist dies eine Notwendigkeit. Damit die WWU ein Erfolg wird, müssen die Arbeitsmärkte und Sozialsysteme aller Mitgliedstaaten des Euro- Währungsgebiets gut und fair funktionieren. Beschäftigung und soziale Belange müssen deshalb beim Europäischen Semester einen hohen Stellenwert einnehmen. Arbeitslosigkeit, insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit, ist eine der Hauptursachen für soziale Ungleichheit und soziale Ausgrenzung.«
Schäubleaner, Draghiisten – und Linke?
Sicher ist die Position von Juncker, Tusk, Dijsselbloem, Draghi und Schulz keine linke Position. Sondern sie ist gefangen in den Widersprüchen der eigenen falschen Politik der letzten Jahre, von denen sie wiederum ahnen, jedenfalls aber nicht aussprechen können, dass sie einen Gutteil zur aktuellen Krise beitrug und der Erkenntnis, dass die Krise der europäischen Integration nicht über den »nationalen Rückbau«, sondern ein höheres Maß an Koordination in Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu lösen sein wird. Gleichwohl hätte hier die politische Linke in Europa einen konkreten Anknüpfungspunkt, ihren Forderungen nach Abkehr von der Austeritätspolitik Gehör zu verschaffen und positive Konzepte für eine europäische Wirtschaftsregierung der Solidarität und des innereuropäischen Ausgleichs einzubringen. Dabei haben wir die guten Argumente, aber auch durchaus die Anschauung vieler Bevölkerungsgruppen auf unserer Seite: So ist offensichtlich, dass eine Zone gemeinsamen Binnenmarkts, gemeinsamer Währung, gemeinsamer Fiskalpolitik nicht auf Dauer ohne eine prozedurale Koordination der Infrastruktur- und Sozialpolitik auskommen kann, ohne zu zerbrechen. Der bundesdeutsche Länderfinanzausgleich, aber auch etwa die Transfers zwischen Nord- und Süditalien, nicht zuletzt im Übrigen auch die Erfahrungen bei der wirtschafts- und sozialpolitischen Integration der Ostbundesländer, sind Beispiele, an denen verdeutlicht werden kann: Wirtschaftliche Effizienz, demokratische Souveränität und Sozialstaatlichkeit bedingen – mittelfristig – einander. Fehlt eines der Pfeiler, verstärken sich die regionalen Disparitäten schnell krisenhaft und entziehen dem System Akzeptanz und Stabilität. Als Linke wissen wir aber gerade um die Notwendigkeit der aktiven politischen Steuerung bei entstehenden Krisen: Wir brauchen auf europäischer Ebene nachhaltige und verstetigte Impulse für mehr Wachstum und Beschäftigung.
Wann, wenn nicht jetzt, wollen wir unsere Forderung nach einem Europäischen Investitionsprogramm in eine breitere Öffentlichkeit bringen? Wann, wenn nicht in Zeiten verstärkter Binnenmarktwanderungsbewegungen und sozialer Katastrophen an der EU-Peripherie, ist Zeit, praktische Vorschläge einer Sozialunion ins Spiel zu bringen, etwa einer innereuropäischen Übertragbarkeit von nationalen Renten- und Arbeitslosengeldansprüchen, der Einführung einer sozialen Basissicherung aller Binnenmarktfreizügigen (die teilweise bereits in erheblicher Größenordnung unsere Großstädte bewohnen, aber aus den Sozialsicherungssystemen der BRD ausgeschlossen sind) oder einer europaweiten Krankenversicherungspflicht? Wann, wenn nicht jetzt, ist Zeit für Infrastrukturoffensive in »abgehängten« Regionen, ob auf den Peloponnes oder in der Uckermark? Die LINKE sollte sich daher auf keinen Fall aus dem Diskurs über ein »anderes Europa« verabschieden oder sich auf Nebenschauplätzen überflüssige Gefechte liefern.
Sozialstaat, nicht Insolvenzordnung
Das hieße aber, die falschen Anleihen aus dem Ordoliberalismus gedanklich zu entsorgen und an ihre Stelle integrative und zugleich radikalisierende Forderungen zu setzen, die den Konflikt zwischen den »Schäubleanern«, also jenen, die offensiv auf den »automatischen Staat« mit »festen Regeln« setzen, die (schein)bar jeder politischen Rationalität durchgesetzt werden müssen, damit aber faktisch den wirtschaftspolitisch starken Euroländern nutzt, und den »Draghiisten«, also jenen, die die fehlenden Ausgleichselemente wirtschaftlicher Prosperität erahnen und durch technokratische Sekundärsteuerinstrumente notdürftig ersetzen wollen, anheizen. Wenn aber etwa Sahra Wagenknecht meint, sie müsse ausgerechnet dem Sachverständigenrat recht geben, wenn dieser dafür plädiert, den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit zum Austritt aus der Euro-Zone zu geben, und die Schaffung eines euroraumweiten Schatzamtes kritisiert, wie es die fünf Präsidenten vorschlagen, dann ist das mehr als ein Beitrag zum Thema »Wie stehst du so zum Euro?«. Dann ist das vielmehr eine eindeutige Abkehr von der Position, die DIE LINKE noch im vergangenen Jahr in ihrem Europawahlprogramm formuliert hat:
»Eine veränderte Europäische Union ist möglich und notwendig. Eine solche demokratische, soziale und ökologische Umkehr in Europa kann erkämpft werden – auf allen Ebenen der Politik, von der Kommunalversammlung bis zum Europaparlament.«
Gleiches gilt für die Unterstützung einer Insolvenzordnung für Euro-Staaten durch Sahra Wagenknecht: Nein, wir wollen die europäische Integration unumkehrbar machen. Ökonomische Disparitäten sollen nicht durch die äußere Abwertung, sondern durch sozialen und wirtschaftlichen Ausgleich eingegrenzt und reduziert werden. Die damit implizit gestellte Frage des »Ob« (Staaten überhaupt Teil der Eurozone sein sollen), erschwert so strategisch zusätzlich den ohnehin schon schweren Kampf um Reformen, also das »Wie« der Politik, in Europa. Es gilt heute wie vor einem Jahr: Wer diese Position nicht mehr mittragen kann und will, soll das deutlich formulieren. Problematisch ist, wenn man sich dabei ausgerechnet auf den SVR beruft, dessen Positionen sonst völlig zurecht heftig kritisiert werden. Kurzum: Nicht problematisch ist eine LINKE Kritik an der aktuell mangelhaften europäischen Verfasstheit, sondern die bei Sahra Wagenknecht festzustellende Abwesenheit des Versuchs, von links Elemente einer solidarischen europäischen Vergesellschaftung mit mehr europäischen Kompetenzen zu skizzieren.
Übrigens formuliert Peter Bofinger in seinem Minderheitenvotum zu dem Bericht eine gänzlich andere Position:
»Da eine gemeinsame Haftung zweifellos auch eine gemeinsame Kompetenz erfordert, muss jede Form einer Gemeinschaftshaftung mit einer Übertragung von fiskalpolitischer Souveränität auf die europäische Ebene einhergehen. Die Mehrheit verweist zu Recht darauf, dass die Bereitschaft hierfür derzeit nicht sehr ausgeprägt ist. Diese ließe sich jedoch erhöhen, wenn dafür im Gegenzug eine gemeinsame Haftung und damit eine bessere Absicherung gegenüber Finanzmarktstörungen erreicht würde. Der Souveränitätsverzicht muss sich dabei nicht auf den Umfang und die Struktur der nationalen Ausgaben und Einnahmen beziehen. Er kann sich darauf beschränken, das für ein bestimmtes Land im Rahmen der bestehenden Regeln zulässige Defizit zu bestimmen und gegebenenfalls im Rahmen von Durchgriffsrechten beispielsweise zeitlich begrenzte Steuererhöhungen zu beschließen.«
Völlig korrekt weist Bofinger darauf hin, dass man nicht das eine wollen kann, ohne das andere mitzudenken. Man muss nicht jeder Nuance dieses Absatzes zustimmen, aber das Lesen seines Minderheitenvotums lohnt sich, da sich Sahra Wagenknecht zum einen nur auf die Mehrheitsposition bezieht und zum anderen Bofingers Hinweise außen vor lässt, dass eine »hoch dosierte antizyklische Fiskalpolitik wesentlich dazu beigetragen hat, eine Wiederholung der Großen Depression zu vermeiden«, dass die Anforderungen an die Spar- und Konsolidierungsanstrengungen innerhalb der Euro-Zone sehr unterschiedlich waren und dass Griechenland beim Indikator sogenannter »Reform Responsiveness« mit Abstand vor allen anderen »Krisenstaaten« in Europa liegt.
Im Übrigen wäre genau jetzt auch der Zeitpunkt, in jenen Bereichen, in denen Linke bereits konkrete Vorschläge für die Neu- und Umgestaltung auf den Tisch gelegt haben, diese in die Debatte einzubringen. Bereits Anfang 2014 gab es einen Beitrag zur Europäischen Finanzpolitik, der Alternativen aufzuzeigen versucht hat. Die Auseinandersetzung mit den bornierten Vertretern einer Art Euro-Fiskalkolonisierung des Südens durch den Norden á la Schäuble als auch den Kräften technokratischen Weiterwurstelns zur Einhegung der Krise braucht eine europäische Linke als Alternative, die offensiv auf über-nationale Wirtschafts-, Infrastruktur- und Sozialkooperation setzt. Deshalb bleibt das Werben für ein Mehr an europäischer Integration, für ein demokratisch verfasstes und sozial gerechtes Europa, eine wichtige Aufgabe einer glaubwürdigen Linken in diesem Land und in ganz Europa.
Alex Recht ist in der Sozialistischen Linken organisiert, Torsten Löser ist Mitlgied im Parteivorstand der Linken und engagiert sich im Forum demokratischer Sozialismus, Jörg Schindler gehört der Redaktion des linksemanzipatorischen Magazins »prager frühling« an und ist stellvertretender Landesvorsitzender der Linken in Sachsen-Anhalt.
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