Abduls Reise II: Warten und frieren auf dem Balkan
Er flieht von Izmir nach Malmö. Und hält seine Reise mit dem Smartphone fest. Einblicke in den Alltag einer Flucht
Ertrunkene Kinder, Schleuser mit Pistolen und ängstliche Mütter auf dem Meer. Abdul hat auf seiner Reise Bilder gesehen die er nie aus seinem Kopf bekommen wird. Es ist eine Reise ohne Rückkehr. Abdul ist syrischer Flüchtling und auf der Suche nach einer Zukunft.
Die gefährliche Überfahrt nach Lesbos hat Abdul geschafft. Jetzt ist er auf dem Weg über den Balkan nach Österreich. Noch vor einigen Wochen führte diese Route durch Tränengas, Polizeiknüppel und Blendgranaten. Die mazedonische Regierung hinderte die Flüchtlinge an der Durchreise, dann die ungarische Regierung, schließlich Kroatien. Doch für die Flüchtlinge gab es keinen anderen Weg. Also haben sie ihn sich genommen.
Als Abdul mit hunderten weiteren Flüchtlingen an der mazedonischen Grenze ankommt, ist die Fluchtroute bereits erkämpft und durchorganisiert. In Gruppen von 50 Personen dürfen sie passieren. Wie überall entlang Abduls Weges belagern fliegende Händler den Straßenrand. Von der dringend benötigten Sim-Karte über Wasser bis zum Schlafsack wird alles geboten. Noch kann Abdul sich auf seine Reisekasse verlassen. 600 Euro hat er noch dabei, aufgeteilt in zwei Geldbörsen. Das soll reichen – bis nach Malmö. Hat er gehört.
Im Bus durch Mazedonien reißt der Kontakt zu uns ab. Akku leer. Das gilt so langsam auch für Abduls Kraftreserven. Die Sorge um seine Freunde Firat und Gaith nagt an ihm. In Athen hat er das letzte Mal von ihnen gehört. Er hat keine Ahnung, wo sie sind. Ob es ihnen gut geht, ob sie weiter kommen. Und ob er sie wiederfinden wird. Abdul ist allein, müde und hat Angst.
Der Bus hält an der serbischen Grenze. Hier ist die mazedonische Polizei brutal. Sie schreit, hetzt und prügelt die Flüchtlinge Richtung Serbien. 18 Kilometer müssen sie laufen, sechs Stunden. Der Weg ist lang und beschwerlich. Für alte Menschen und kleine Kinder kaum zu bewältigen, erzählt Abdul später. Auch er ist erschöpft. Seit Lesbos hat er nicht richtig geschlafen. Die feuchte Kälte dringt ihm in die Glieder.
In der Hilfe für seine Weggefährten findet Abdul dann Ablenkung. Auf der Reise wird er zum Dolmetscher, zum Babysitter, zum Pfleger von Alten und Kranken. »Da kann man einfach nicht anders«, sagt Abdul, »immer und überall wird Hilfe benötigt. Wie soll man da schlafen?« Abdul hat seine Art gefunden, mit der Situation umzugehen. Seinen Panzer. Wer sich um andere kümmert, spürt die eigenen Sorgen nicht.
Einmal in Serbien angekommen, geht es schnell weiter. Zwei- bis dreimal täglich fährt ein Zug nach Šid, zur serbisch-kroatischen Grenze. Dort entlang verläuft die Route, seitdem Ungarn seine Grenzen zu Serbien geschlossen hat. Die kroatische Regierung lässt die Flüchtlinge passieren.
Abdul findet sich im Grenzlager Tovarnik wieder. Zusammen mit 4000 anderen Flüchtlingen wartet er in der Kälte auf seine Registrierung. Man erzählt sich, dass hier keine Fingerabdrücke genommen werden. Also kein Problem für die Weiterreise. Nach sieben Stunden in der Schlange weiß die EU, dass Abdul kommt, und Abdul weiß, dass er in Kroatien ist. Erst am nächsten Tag wartet ein Bus nach Ungarn auf ihn. Ein ganzer Tag in diesem Lager, ohne Strom, ohne Decken – Abdul kann nicht mehr. Aber was soll er machen? Zurück kann er nicht. Er schaut sich um. Und trifft auf Vania, eine Anwohnerin, die im Lager aushilft.
»Die Freiwilligen sind die einzigen, die die Versorgung hier am Laufen halten«, sagt Abdul, »sie versuchen das Beste vom Besten, und damit retten sie uns.« Abdul erzählt Vania seine Geschichte. Er berichtet auch von Firat und Gaith. Vania sucht über sechs Stunden lang nach den Freunden, schaut in jedes Zelt, fragt überall herum, aber vergebens. Immerhin kann sie Abdul mit Zigaretten weiterhelfen, mit einem Sandwich und einer Decke, die sie von zu Hause holt. Und sie leiht ihm ihr Handy. Er ruft uns an. Am Telefon bricht er zusammen. »Es ist alles furchtbar hier, wenn ihr das sehen könntet. Es ist schmutzig, es ist kalt. Und hier sind Kinder!« Für einen Moment verliert Abdul seine Zuversicht, den Glauben an seine Flucht. Es bleibt nur noch ein Wunsch: Das alles soll vorbei sein. Egal wie.
36 Stunden verbringt Abdul im Camp. Als er endlich Ruhe findet und einschläft, werden ihm 300 Euro geklaut. Geld, das er dringend für seine Reise benötigt. Nun hat er nur noch seine Notreserve, die er versteckt gehalten hat. Aber das ist zu wenig, weiß Abdul. So wird er es nicht nach Malmö schaffen. Für sein Unglück macht Abdul Afghanen verantwortlich. Oder vielleicht Iraner. Auf keinen Fall Syrer, die würden so etwas nicht tun, hören wir in seiner heiseren Whatsapp-Nachricht. Ressentiments vergrößern sich auf der Flucht rasant.
Am nächsten Tag geht es endlich weiter. Die Grenze zwischen Kroatien und Ungarn ist noch offen. Das soll sich bald ändern. Schon jetzt sieht Abdul den kilometerlangen Stacheldrahtzaun, der die Flüchtlinge an der Weiterreise hindern wird. Doch er hat Glück. Noch lässt das Militär Abdul und seine Weggefährten passieren.
Von hier bis zur österreichischen Grenze soll es schnell gehen, sagt man. Und von Österreich und Deutschland erzählt man sich nur Gutes. Vielleicht wird ab jetzt alles einfacher. Aber noch hängt Abdul übermüdet in einem überfüllten Bus in Ungarn fest. Firat und Gaith sind immer noch verschollen. Und er hat Angst vor einer vorzeitigen Registrierung. Von seinem Ziel trennen Abdul noch über 1500 Kilometer.
Lesen Sie wie es weiter geht im dritten Teil:
Abduls Reise III: »Ab hier sind wir sicher«
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!